Nikolai Ziegler hat als Doktorand am Institut für Architekturgeschichte drei Jahre lang das Neue Lusthaus erforscht, das im Jahr 1844 abgerissen wurde. Der Verlust sei riesig, sagt er, denn das Gebäude habe in technischer wie ästhetischer Hinsicht Maßstäbe gesetzt.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Stünde das Neue Lusthaus aus dem Jahr 1593 noch, es wäre die bedeutendste Sehenswürdigkeit von Stuttgart – das steht für Nikolai Ziegler, den frisch gebackenen Doktor der Architektur an der Universität Stuttgart, außer Frage. Dort, wo sich heute das Kunstgebäude neben dem Neuen Schloss zu behaupten versucht, hatte der Architekt Georg Beer Ende des 16. Jahrhunderts ein prächtiges Festgebäude in die herzoglichen Gärten gepflanzt. Es beeindruckte jeden Besucher vor allem durch den 60 mal 21 Meter großen Festsaal, dessen fast grenzenlose Weite von keiner einzigen Säule unterbrochen war und der von einem wunderbaren Tonnendach überwölbt wurde.

 

„Wunderbar“ ist dabei wörtlich zu nehmen: Für viele war es unfassbar, dass dieses freitragende Gewölbe nicht in sich zusammenstürzte. Nikolai Ziegler ist dieser Frage nachgegangen, und die Recherche mündete in die wichtigste Erkenntnis seiner 700 Seiten umfassenden Doktorarbeit: Es war bekannt, dass das Lusthaus in ästhetischer Hinsicht ein herausragendes Bauwerk weit über Württembergs hinaus war; nun arbeitete Ziegler heraus, dass es auch in technischer und konstruktiver Hinsicht Maßstäbe gesetzt hatte, teils auf Jahrhunderte hinaus, wie der Architekturhistoriker findet.

Ein unbekannter Zimmermann hatte die Ideen

Für den Dachstuhl kombinierte der Architekt Georg Beer nämlich Querstreben, Hängesäulen und Doppelbalken auf so raffinierte Weise, dass sie das Gewicht des Gewölbes tragen konnten. Und erstmals wurden Schrauben aus Metall verwendet. Ziegler fand auch heraus, dass womöglich gar nicht Beer selbst, sondern ein bisher unbekannter Zimmermann aus Schorndorf namens Elias Gunzenhäuser diese Innovationskraft eingebracht hat.

Aus ganz Deutschland seien Baumeister nach Stuttgart gekommen, um das Lusthaus zu begutachten, erzählt Ziegler – die anderen Fürsten wollten auch so ein Haus. Die Konstruktionspläne seien unzählige Male kopiert worden; bei der Dreieinigkeitskirche in Regensburg sei das Gewölbe sogar baugleich nachgebildet worden. Für Ziegler hat sich beim Lusthaus die Technik geradezu revolutionär entwickelt: „Da wurden zehn Schritte auf einmal gemacht.“

Als im Jahr 1744 das Neue Schloss geplant wurde, war man sich der Bedeutung des Lusthauses, das damals als Opernhaus genutzt wurde, noch bewusst – während alle barocken Schlösser den Gärten zugewandt sind, steht das Stuttgarter Schloss um 90 Grad gedreht. Ziegler ist sich sicher, dass der Grund dafür das Lusthaus war: „Man hätte es abreißen müssen, um die Hauptfassade des Schlosses an die Gärten anzuschließen – das wollte niemand.“

Das Modell ist in der Keplerstraße 11 zu besichtigen

Das sah 1844 anders aus. Für König Wilhelm I. seien Bildung und Erziehung die wichtigsten Werte gewesen; ein Lusthaus, das pure Lebensfreude ausdrückte, sei für den pietistischen Herrscher verwerflich gewesen. So wurde das Lusthaus abgerissen. Dem Leiter der Abbrucharbeiten, Carl Friedrich Beisbarth, offenbarte sich aber während seines Tuns die Qualität des Lusthauses – er stellte 514 Zeichnungen her, die so detailliert sind, dass man mit ihnen das Lusthaus neu erstellen könnte.

Nikolai Ziegler hat zumindest ein riesiges Modell im Maßstab 1:50 gebaut. Gemeinsam mit 20 Studenten hat er ein Jahr lang daran gearbeitet; jeder Ziegel musste ausgesägt, jede Ziselierung von Hand graviert werden. Das Modell ist noch einige Wochen lang am Institut für Architekturgeschichte, Keplerstraße 11, im fünften Stock ausgestellt; ebenso ein Nachbau des einzigartigen Dachstuhls im Maßstab 1:20. Die Modelle sind frei zugänglich.

Besonders bitter ist der Abbruch des Lusthauses auch deshalb, weil kurz darauf der Stil der Renaissance wieder in Mode kam: 1844 war der Abriss, 1845 begann der Bau der Villa Berg, die Christian Friedrich Leins im Stil der italienischen Renaissance errichtete. Um dem Gebäude mehr Authentizität zu verleihen und den neuen Baustil zu legitimieren, seien übrigens Säulen des Lusthauses und auch eine schöne Stützfigur dort wieder verwendet worden.

An der Burg Lichtenstein wurden Bauteile wiederverwendet

„Sowieso hat sich deutlich mehr vom Lusthaus erhalten als nur der Treppenaufgang im Schlossgarten“, sagt Nikolai Ziegler. Im Lapidarium gebe es sehr viele Steine, und beim Bau der Burg Lichtenstein im Kreis Reutlingen habe man viel Bauschutt vom Lusthaus verarbeitet – auch viele Büsten seien dort neu angebracht worden.

So prächtig das Lusthaus aber auch war, wiederauferstehen lassen will Nikolai Ziegler es nicht; Rekonstruktionen sind unter Architekten verpönt. Dabei liegen sie gerade im Trend, wie man an der Frauenkirche in Dresden oder an der Altstadt in Frankfurt sehen kann. Ganz neu ist diese Idee allerdings nicht: Im Jahr 1904 hatte sich in Stuttgart sogar ein Verein gegründet, um das Lusthaus neu erstehen zu lassen. Die Stadt war einverstanden, die Pläne waren fertig, dann scheiterte die Sache doch; eine Lotterie, mit der man den Wiederaufbau finanzieren wollte, kam nicht zustande.

Ausstellung im Hauptstaatsarchiv kommt erst 2016

Leider wird es noch ein wenig dauern, bis man sich in Zieglers Arbeit vertiefen kann. Sie soll erst im zweiten Halbjahr 2016 veröffentlicht werden; zeitgleich soll im Hauptstaatsarchiv eine Ausstellung stattfinden. Trösten kann man sich derzeit mit Zieglers Modell, und bald mit einem virtuellen Gang in die Universitätsbibliothek: Teil des Projektes war die Digitalisierung aller Zeichnungen Beisbarths; demnächst sollen sie online gestellt werden.

Nikolai Ziegler selbst will übrigens trotz seiner Leidenschaft für das Lusthaus nicht weiter als Architekturhistoriker arbeiten – seine Zeit an der Uni endet im Herbst. Als Architekt will er endlich selbst bauen. Und was, wenn es am Ende doch das Lusthaus wäre? Anrufe potenter Investoren habe es jedenfalls schon gegeben, so Ziegler.