Steuervorteile für Konzerne in Luxemburg sind nichts Neues – schon länger wird ermittelt. Doch das nun öffentliche Ausmaß löst ein politisches Beben in Brüssel aus. Im Fokus steht der Expremier des kleinen Landes, der neue EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker.

Brüssel - Im Nachhinein drängt sich der Eindruck auf, als ob er eine leise Vorahnung gehabt hätte. Am Mittwoch war Jean-Claude Juncker in den Pressesaal der EU-Kommission gekommen, der er seit gerade sechs Tagen vorsteht, um von der ersten wöchentlichen Kommissionssitzung zu berichten. Zuerst bedankte er sich bei den Journalisten für die vielen wohlwollenden Kommentare zum Start seiner Kommission. „Ich glaube aber nicht an die Nachhaltigkeit guter Presse“, schränkte er gleich ironisch scherzend ein: „Ich brauche Sie, weil ich unfähig zur Selbstkritik bin.“

 

Keine 24 Stunden später kämpft sein Sprecher, der Grieche Margaritis Schinas, am selben Ort erfolglos darum, ein politisches Erdbeben kommunikativ unter Kontrolle zu bekommen. Die Enthüllungen des Internationalen Konsortiums Investigativer Journalisten, am Donnerstag zeitgleich in mehreren Zeitungen veröffentlicht, bringen den Luxemburger Ex-Premier massiv unter Druck. Denn die vier Gigabyte bisher unbekannter Dokumente über die für globale Großkonzerne mehr als vorteilhafte Steuerpraxis des Großherzogtums belegen, dass nicht weniger als 343 Unternehmen teilweise nur ein Prozent Steuer gezahlt haben. Und die Deals zwischen den Finanzbehörden und den Firmen, „tax rulings“ genannt, wurden zu einer Zeit getätigt, als Juncker dort Ministerpräsident war.

Neu und brisant ist das Ausmaß der Steuervermeidung

Neu und brisant ist weniger die Tatsache, dass es solche Regeln in Luxemburg gibt. Im Zuge der Finanzkrise hat das nach Malta zweitkleinste EU-Land bereits den automatischen Austausch von Informationen über Auslandskonten zusagen müssen. Und im Europawahlkampf hatte sich der Sozialdemokrat Martin Schulz – wenn auch sonst in vielem mit Juncker einig – über dessen heimische Politik mokiert: „Meine Vorstellungen darüber, wie wir Steueroasen und Steuerdumping bekämpfen sollten, wird der ehemalige luxemburgische Ministerpräsident nicht teilen.“ Kürzlich leitete auch die EU-Kommission als oberste Wettbewerbsbehörde zwei Verfahren gegen Luxemburg ein, da die minimale Besteuerung des Onlinehändlers Amazon und einer Fiat-Finanztochter den Wettbewerb verzerrten. Doch zwei sind nicht 343: Neu und brisant ist das Ausmaß, die Systematik der Steuervermeidung.Eine politische Kernfrage in der Causa Juncker lautet nun: Ist es erträglich, dass er – wie einst als Chef der Eurogruppe und nun als Kommissionspräsident – den Mitgliedstaaten und damit den Menschen dort teils harte Etatkürzungen und soziale Einschnitte empfiehlt, wo er doch selbst als Luxemburgs Premier und davor als Finanzminister von der Steuerpraxis des Landes zumindest gewusst haben muss? „Er hat in der Eurogruppe härteste Sparmaßnahmen gegen Griechenland beschlossen und mit der anderen Hand Milliarden an Großkonzerne und deren reiche Eigner verschenkt“, echauffiert sich ein belgischer EU-Diplomat: „Das ist einfach zutiefst ungerecht.“