Die Konkurrenz um günstigen Wohnraum ist in Stuttgart groß. Anja E. hat dabei den Kürzeren gezogen. Die 42-Jährige ist seit Sommer 2012 wohnungslos.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Vor Kurzem ist Anja E. nachts durch eine Wohnung spaziert. Sie war groß und hell, hatte fünf Zimmer und gehörte ihr – zumindest bis sie aus dem  Traum erwacht ist und sich in dem schmucklosen Raum wiederfand, der erst mal ihr Zuhause ist. Zum Glück, wie man sagen muss. Sie hat wieder eine Bleibe.

 

Im Sommer 2012 hat die 42-Jährige ihre Wohnung verloren, seit Mitte Januar kommt sie in der Frauenpension in Bad Cannstatt unter. Nichts in dem Raum erzählt eine Geschichte aus ihrer Vergangenheit. Eine kleine Reisetasche mit wenigen Klamotten, eine geschenkte Sonnenbrille, Toilettenartikel, zwei Paar Schuhe und Badelatschen, ein Topf – das ist ihr ganzer, unpersönlicher Besitz. „Ich bin froh, dass ich hier angekommen bin“, sagt sie.

Deutlich mehr Dringlichkeitsfälle als 2011

45 Plätze für wohnungslose Frauen gibt es in der Frauenpension, fünf weitere für psychisch kranke wohnungslose Frauen. Der Bedarf ist größer. Zehn Frauen stünden aktuell auf der Warteliste, berichtet die Leiterin der Einrichtung der Caritas, Maria Nestele. Auch weil der Wohnungsmarkt nichts hergebe, seien gerade nur wenig Auszüge möglich.

Vor allem im Jahr 2012 hat sich die Lage auf dem Stuttgarter Wohnungsmarkt verschärft. Das zeigt sich auch an der Statistik: Um knapp 23 Prozent ist die Zahl der sogenannten Dringlichkeitsfälle auf der Vormerkliste beim Amt für Liegenschaften und Wohnen von 2011 bis Ende 2012 gestiegen. Hierunter fallen zum Beispiel Frauen, die in Frauenhäusern untergekommen sind, Rollstuhlfahrer, Räumungsfälle, Wohnungssuchende, die in Wohnheimen leben, Schwangere, die wegen eines Konflikts ausziehen müssen. „Weil wir zu wenige Sozialwohnungen haben, können Personen nicht im gewünschten Zeitraum in eine feste Wohnung vermittelt werden“, sagt der Abteilungsleiter für das Wohnungswesen, Erhard Brändle. Weil in den vergangenen Jahren mehr Sozialmietwohnungen aus der Bindung herausgefallen seien, als neue Wohnungen gefördert werden konnten, habe der Wohnungsmangel zugenommen. Insgesamt stehen 3330 Wohnung suchende Haushalte auf seiner Vormerkliste – 2011 waren es 2834, rund 500 weniger. Die Zahl der Menschen, die um günstigen Wohnraum konkurrieren, ist entsprechend gestiegen. „Es herrscht ein Verdrängungswettbewerb, unsere Klientel zieht da den Kürzeren“, sagt Maria Nestele.

Wohnung zu teuer für eine Hartz IV-Empfängerin

Obdachlos – nie hätte Anja E. gedacht, dass ihr das einmal passiert. Sie hat eine Ausbildung als Bürokauffrau, spricht Englisch und Französisch. Sie verdiente mal gut bei Sony, bis sie nach einem Burn-out kündigte. Richtig aus den Bahnen geraten ist ihr Leben seit der Trennung von ihrem Freund im Jahr 2006. Das ist typisch: Bei vielen Frauen, die in der Einrichtung leben, ist es nach einer Trennung oder dem Tod des Partners bergab gegangen. Anja E. kam mit dem Verlust der Beziehung zurecht, doch nicht mit dem der Wohnung. Nur durch Zufall, und weil ihre Eltern bürgten, hat sie noch rechtzeitig eine Bleibe gefunden. Sie arbeitete damals befristet in einem Lager, verlor den Job, rutschte auf Hartz IV ab und hatte ein Problem mit der Miete. Ihre Wohnung kostete 730 Euro warm – zu viel fürs Jobcenter. Anja E. hat lange versucht, eine andere Wohnung in Stuttgart zu finden oder zumindest ein WG-Zimmer. Sie sei beim Amt für Liegenschaften und Wohnen gewesen, bei der SWSG, habe sich in Wohngemeinschaften vorgestellt. Alles vergeblich, auch der Wohnberechtigungsschein half nicht weiter. „Hartz IV setzen viele gleich mit Junkie, Alki, Asi“, sagt sie bitter. Sie hat kein Alkoholproblem. Sie raucht, das war’s. Es frustrierte Anja E., die Inserate anderer zu lesen. Wenn auch Doppelverdiener und Ingenieure eine Wohnung suchen, wie sollte sie da eine Chance haben?

Die Wohnung wird im Juni geräumt

Seit Anfang 2012 hat sie kaum noch Miete gezahlt. Es kam, wie es kommen musste: Zuerst wurden Strom und Gas abgestellt, dann kam im Mai 2012 der Brief, man werde die Wohnung räumen. Anja E. dachte, man teile ihr den Räumungstermin mit, und lebte einfach weiter. Doch es kam kein zweiter Brief, sondern der Lieferwagen. An einem sonnigen Tag im Juni, als sie unbedarft auf einer Bank mit Freunden saß, wurde ihre Wohnung geräumt. Sie hat nichts mehr, was ihr gehörte. Ihr breites Bett, ihre Brille, ihr Teddy Markus, den sie zur Geburt geschenkt bekam – alles fort.

Die wenigsten Frauen melden sich sofort bei den offiziellen Stellen und bitten um Hilfe, ist die Erfahrung von Maria Nestele. Auch Anja E. hat zuerst gedacht, sie schaffe es alleine, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Sie kam in der Wohnung eines Kumpels unter. Doch als der im Gegenzug dafür Liebesdienste verlangte und sie „nicht wollte, wie er wollte“, habe er sie rausgeschmissen. Sie lebte „mal da, mal da“, aber nie auf der Straße. Dann irgendwann der Zusammenbruch. Zwei Wochen Psychiatrie. Ein guter Freund nahm sie über Weihnachten bei sich auf, dann gab sie sich einen Ruck, ging zur Frauenberatung, wurde in die Frauenpension vermittelt.

Mit den Eltern hat sie keinen Kontakt mehr – aus Scham

„Ich bin froh, dass ich hier angekommen bin“, sagt sie. Aber sie hat Angst, dass noch etwas auf sie zukommt. Ein halbes Jahr hat sie ihre Post nicht gelesen. Was für Rechnungen sind da dabei gewesen? Erst mal muss sie zur Ruhe kommen, um sich zu sortieren. Die Sozialarbeiter in der Frauenpension lassen das zu. Niemand wird hier zu irgendetwas gezwungen, das gehört zum Konzept nach dem Motto: Alles ist möglich, nichts muss. Anja E. hätte gerne wieder einen Job. Etwas mit Tieren oder alten Menschen könnte sie sich vorstellen.

Sie setzt sich auf ihr Bett in ihrem Zimmer, lässt sich von hinten fotografieren, damit ihre Eltern sie nicht erkennen. Aus Scham hat sie keinen Kontakt mehr. „Ich habe gerade nichts, worauf ich stolz sein kann: keinen Job, keine Wohnung, kein Kind, keinen Mann.“ Aber sie hat wieder ein Bett, sie hat es warm. „Es hätte noch schlimmer kommen können.“ Das hat sie erst kürzlich zu einer der anderen Bewohnerinnen der Frauenpension gesagt.