Wer war’s? Wohl niemand dürfte diese klassische Krimifrage bei Mark Billinghams Roman „Die Lügen der anderen“ vorzeitig beantworten können. Doch das Buch überzeugt auch mit psychologischer Feinzeichnung – die teilweise ganz schön maliziös daherkommt . . .

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Viele Leute lesen Krimis, weil sie wissen wollen: wer war’s? Viel eindrücklicher sind aber oftmals Romane, die zwar spannend und trickreich auf ein überraschendes Ende hin konstruiert sind – die daneben aber mit menschlichen und allzumenschlichen Scharfzeichnungen treffen. „Die Lügen der anderen“ von Mark Billingham ist so ein Roman. Klassische Whodunit-Anlage: Ein etwas behindertes Mädchen verschwindet spurlos, eine junge Polizistin und ein erfahrener Cop ermitteln mit beträchtlichem Erfolg, drei Middleclass-Ehepaare haben alle irgendwie Dreck am Stecken . . 

 

Gerade diese britischen Ehepaare sind es, die im Zentrum des Geschehens stehen. Sie lernen sich zufällig bei einem Florida-Urlaub kennen, man geht zusammen aus, trinkt, plaudert, verabredet sich zu einem Wiedersehen in der Heimat. Doch die insgesamt drei Treffen – jeder muss jeden mal einladen, so ist nun mal die Konvention – stehen von vornherein unter keinem guten Stern. Und das nicht nur, weil es die üblichen Animositäten, Sticheleien, Witzchen, Lästereien zwischen den sechsen gibt (Billingham hat das sehr plastisch aufgeschrieben). Sondern auch, weil das verschwundene Mädchen immer wieder zum Thema wird.

In den USA sind die drei Frauen und drei Männer von der Polizei befragt worden, mit der Wahrheit haben sie es dabei aber nicht so genau genommen. Als die Leiche der verschwundenen Mädchens auftaucht, kocht der Fall wieder hoch. Für eine junge britische Beamtin erst recht der Anlass zu verstärktem Nachhaken bei den drei Paaren – ihren Vorgesetzten hätte es im Prinzip auch Dienst nach Vorschrift getan.

Das bürgerliche Leben bröselt

Sehr geschickt zieht Billingham zusätzlich zum kriminalistischen Element verschiedene Ebenen ein. Das Verhältnis Amerikaner–Briten etwa. Das bröselige bürgerliche Leben, dessen Fassade oft nur mühsam aufrecht erhalten wird. Die Typen, die sich auf Kosten der anderen profilieren. Die Besserwisser. Die Frauen, die sich wegducken. Oder lieber gleich shoppen gehen.

Und vor allem: die Kinder. Die Kinder, die man hat. Die Kinder, die man nicht hat. Weil sie einem entweder genommen wurden. Oder weil man sie erst gar nicht bekommen hat. Das ist eine der großen Stärken des Buches: Billingham geht mit diesem Thema nicht hausieren, er kommt nie in die Gefahr von Larmoyanz und wohlfeilen Effekten.

Recht blutig und sehr überraschend

So kann er das vordergründig Effektvolle aufsparen für den Schluss, an dem es erstens vergleichsweise blutig und zweitens sehr überraschend wird. Klassische Krimifreunde kommen aber nicht erst da auf ihr Kosten. Und Liebhaber psychologisch ausgefeilter, teils auch etwas maliziöser Charakterdarstellungen werden „Die Lügen der anderen“ eh schon längst in ihren Bann gezogen haben.

Mark Billingham: Die Lügen der anderen. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Atrium Verlag, Zürich 2014. 448 Seiten, 15,99 Euro. Auch als E-Book, 15,99 Euro; und als Hörbuch-CD, 19,99 Euro.