Vor 25 Jahren trieb Ungarn die Einigung des geteilten Kontinents voran. Beim paneuropäischen Picknick in Sopron kam es am 19. August 1989 zur ersten Massenflucht von DDR-Bürgern. Der inszenierte Durchbruch läutete das Ende der DDR ein.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Sopronköhida - Vor dem Denkmal zum „Durchbruch“ klicken die Kameras einer Touristengruppe. Achtlos brettern die Vehikel der Grenzpendler  auf der Pressburger Straße unweit des ungarischen Dorfes Sopronköhida an dem Nachbau des Signalleitsystems des „Eisernen Vorhangs“ vorbei. Die Demarkationslinie zwischen dem sozialistischen Osten und kapitalistischen Westen sei jahrzehntelang eine „kafkaeske Welt“ gewesen, erzählt der Chemie-Ingenieur Laszlo Nagy: „Wir wussten, dass es den Eisernen Vorhang gibt, aber durften uns ihm nicht nähern – und sahen ihn nie.“  

 

Die symbolische Überwindung der Spaltung Europas hatte der Ex-Dissident als Mitorganisator des Paneuropäischen Picknicks vor 25 Jahren zelebrieren wollen. Aber dann kam Nagy für den eigentlichen Durchbruch an der ungarisch-österreichischen Grenze doch zu spät. Kurz vor 15 Uhr drückten am 19. August 1989 Dutzende DDR-Flüchtlinge ein Holztor ein – und machten für Hunderte von Schicksalsgenossen den Weg nach Westen frei. „Viele priesen die Planung der Massenflucht hernach als genial, aber das ist Unsinn“, erzählt der 58-Jährige: „Wir Organisatoren wurden damals am meisten überrascht.“  

Doch die Veranstalter des Polit-Happenings waren keineswegs die Einzigen, die von den Flüchtlingen überrumpelt wurden. „Alles unter Kontrolle“, er müsse sich über das etwaige Erscheinen von DDR-Flüchtlingen keine Sorgen machen, hatten dem diensthabenden Grenzkommandanten Arpad Bella seine Vorgesetzten versichert. Doch plötzlich sah sich der damals 42-Jährige ohne Vorwarnung mit in den Westen drängenden Ostdeutschen konfrontiert. Versuche, die Vorgesetzten zu erreichen, schlugen fehl: „Da wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Ich fühlte mich wie der letzte Eisenbahnerhund, der nicht wusste, was gespielt wird.“  

Österreichische Grenzer öffnen das Holztor nach Ungarn. Foto: dpa

Die festgefügte Nachkriegswelt geriet im Sommer von Europas Schicksalsjahr 1989 aus den Fugen. In der vom Wettrüsten mürbe gestrittenen Sowjetunion predigte Parteichef Michail Gorbatschow den Umbau („Perestroika“) des sozialistischen Staatssystems. Und auch in den Satellitenstaaten taten sich stets mehr Reformrisse auf. SED-Chef Erich Honecker oder Rumäniens Staatschef Nicolae Ceausescu reagierten mit verstärkter Repression. Ungarn mutierte hingegen zu einem der Schrittmacher der Öffnung.   Bereits 1988 hatte Staatsminister Imre Pozsgay die Sicherungsanlagen an der Westgrenze als „moralisch und politisch veraltet“ erklärt. Budapest wollte nicht mehr den Kerkermeister für die DDR mimen, denn für das hoch verschuldete Land hatte der kostspielige Grenzzaun längst keine Funktion mehr: Schon 1988 konnten sich die Ungarn der Reisefreiheit erfreuen.  

Premier Miklos Nemeth trieb den am 2. Mai 1989 offiziell verkündeten Abbau des Eisernen Vorhangs rasch voran. Als Österreichs Außenminister Alois Mock und sein Kollege Gyuala Horn Ende Juni den Grenzdraht zerschnippelten, war dieser längst demontiert. Für die „Show“ hatten eigens zehn Meter des Signalzauns wieder aufgebaut werden müssen, so Bella: „Unser Auftrag blieb aber zunächst derselbe: hart und zuverlässig die Grenze zu schützen.“  

Doch die Nachricht vom Abbau der Grenzhürde elektrisierte in der DDR die republikmüden Urlaubermassen. Zehntausende mit abgelaufenen Visa bereiteten sich am Plattensee mit der eigenmächtigen Verlängerung ihres Urlaubs auf die anvisierte Flucht in den Westen vor.  

Die pensionierte Krankenschwester Agnes Baltigh lebte schon damals in Fertörakos am Neusiedler-See – direkt an der Grenze. Die Umwälzungen, die den Kontinent erfassten, verfolgte die heute 89-Jährige zunächst nur am Rande. Um sich die Miete für ihr Häuschen und ihren kleinen Fiat weiter leisten zu können, hatte die Witwe im April 1989 einen Nebenjob als Kartenverkäuferin im Strandbad angenommen. Doch am Morgen des 1. August verkündete dort ein Grenzschutz-Major eine Botschaft, die nicht nur ihrem Sommerjob, sondern auch dem Leben Tausender DDR-Urlauber eine radikale Wendung geben sollte: „Ab heute können alle Ausländer aus den Ostländern zum See kommen. Das bisherige Verbot ist aufgehoben.“

Die Menschen fallen sich in die Arme. Foto: dpa

  Schon kurz danach rollten die ersten Trabis zum Strand. Und rasch sah sich Agnes Baltigh wegen ihrer guten Deutschkenntnisse mit einer ganz neuen Kundenklientel konfrontiert. Wie man denn am besten nach „drüben“ komme, lautete die Frage, die sie in den nächsten sechs Wochen hundertfach beantworten sollte.   Ihren Wohnort kannte die vierfache Mutter gut, die umliegenden Wälder allerdings kaum. Von Winzern, Nachbarn, aber auch Grenzsoldaten erhielt die freiwillige Fluchthelferin die Informationen, die den Ostdeutschen auf ihrem Campingplatz den Weg in den Westen öffnen sollten: „Einer der Soldaten erzählte mir, dass der mittlere der drei Wachtürme nie besetzt sei: Einfach beim Steinbruch in den Wald hinein – und dann stets den mittleren Turm anpeilen.“  

Unzählige Ostdeutsche warteten bei „Tante Agnes“ den Einbruch der Dunkelheit ab. Sie kochte für ihre Gäste Tee, schmierte Butterbrote und hörte deren trostlosen Berichten zu „Die Leute waren so verzweifelt. Ich half ihnen, weil ich Verständnis hatte, dass sie wegwollten.“ Ihre Mutter warf ihr vor, sich mit der „illegalen Geschichte“ in Gefahr zu bringen. Angst habe sie keine verspürt, sagt die zierliche Frau. Dennoch habe sie in ihrer sechswöchigen Karriere als Fluchthelferin zehn Kilo abgenommen: „Ich fand keine Zeit, um zu essen.“

Auch Laszlo Nagy hatte damals eine Menge Stress. Ende Juli traf bei den Aktivisten des Demokratischen Forums in Sopron ein Brief von Gesinnungsfreunden aus Debrecen mit dem Vorschlag ein, ein Paneuropäisches Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze zu organisieren. „Bau ab – und nimmt mit“ lautete der Slogan, mit dem dazu aufgefordert werden sollte, den Eisernen Vorhang zu zerschneiden – und gemeinsam Speck zu braten.

Die Euphorie ist für manche beängstigend. Foto: dpa

„Wir wollten demonstrieren, dass der Eiserne Vorhang selbst abgebaut werden kann, nicht nur in Ungarn, sondern auch in der DDR und der Tschechoslowakei. Doch uns blieben nur drei Wochen für die Organisation – und in Ungarn hatte damals noch kaum jemand Telefon.“   Die Schirmherrschaft hatten die Initiatoren Staatsminister Pozsgay und Otto von Habsburg als Vorsitzende der Paneuropäischen Union angetragen.

Überraschend rannten sie in Budapest offene Türen ein. Später habe ihm Pozsgay erzählt, dass Premier Nemeth in dem Picknick eine Chance sah, die Reaktion Gorbatschows auf eine „Eskalation“ an der Grenze zu testen, so Nagy. Wer die Flugblätter zum Picknick auf Deutsch drucken ließ, wisse er bis heute nicht: „Aber beim Durchbruch waren sicher alle Geheimdienste Europas zugegen.“  

Dass ihr Picknick als Test diente, war den Organisatoren nicht bewusst. Doch auffällig war für Nagy, wie glatt die Vorbereitungen über die Bühne gingen: „Normalerweise bereiteten uns die Behörden immer Probleme. Doch vor dem Picknick erwarteten sie uns schon mit dem Stempel in der Hand.“   Da sich der Eiserne Vorhang nicht direkt an der Grenze, sondern zwei Kilometer im Hinterland befand, sollte das Picknick hinter dem Gefängnis von Sopronköhida steigen, denn dort fanden sich noch Reste des Grenzzauns, den die Picknick-Gäste zerschneiden konnten. Der Grenzübertritt sollte an dem Tor an der Pressburger Straße erfolgen. Provisorische Grenzübergänge seien 1989 keine Seltenheit mehr gewesen, so Bella: „Bei binationalen Dorffesten war das durchaus üblich.“

 

Agnes Baltigh wurde von den Ereignissen überrascht. Foto: Roser
Von dem Picknick erfuhr Agnes Baltigh von ihren ostdeutschen Schützlingen, die ihr von der geplanten Öffnung eines Grenztors erzählten: „Ich sagte, geht hinaus und versteckt euch zunächst. Wenn ihr seht, dass das Tor aufgemacht wird, könnt ihr hinübergehen. Allein von meinem Camping gingen einige Hundert  – und keiner kam zurück.“   Da sich die Pressekonferenz vorab in die Länge zog, machten sich Nagy und seine Mitstreiter verspätet zur Grenze auf.

Dort sah sich Arpad Bella in einer schwierigen Zwickmühle. „Wenn ich die Ostdeutschen nicht aufhalte, verstoße ich gegen die Vorschriften. Doch ohne Blutvergießen wäre ein Waffeneinsatz nicht möglich“, schildert der 67-Jährige das Dilemma: „Werden wir gestürmt oder stürmen wir? Oder treten wir von der Bühne ab und lassen die Leute das Tor durchbrechen?“   Viel Zeit blieb Bella nicht. Aber er tat genau das  Richtige – nichts.

Die Grenzer drehten den aus Ungarn herausdrängenden Ostdeutschen einfach den Rücken zu – und kontrollierten nur die Ausweispapiere der zum Picknick strebenden Österreicher. 700 Ostdeutsche marschierten durch das offene Tor nach Westen. Die Bilder des Durchbruchs gingen um die Welt. Zwar wurde das Tor am nächsten Tag wieder abgeriegelt. Doch am 11. September sollte die Fluchthelfer-Mission von Agnes Baltigh enden. Ungarn öffnete die Grenzen, Zehntausende von DDR-Bürgern reisten aus. Zwei Monate später fiel die Mauer in Berlin.

  Ob Grenzkommandant, Picknick-Organisator oder Fluchthelferin: keiner der unfreiwilligen Helden des Durchbruchs hat den damaligen Einsatz bereut. Aber dennoch fällt ihr Fazit 25 Jahre später zwiespältig aus. Nach der Wende habe er geglaubt, dass die Sozialisten mindestens 40 Jahre nicht mehr gewählt werden würden, sagt Laszlo Nagy: „Aber nun lese ich, dass eine Mehrheit der Rumänen ausgerechnet Ceausescu für den besten Präsidenten aller Zeiten hält. Haben die Leute Alzheimer, sind sie verrückt?“

Vor 25 Jahren habe sie nicht geglaubt, dass so viele junge Wissenschaftler „aus Ungarn fliehen“ würden, sagt Agnes Baltigh seufzend. Doch die Wissenschaft werde in ihrem Land kaum mehr gefördert. Mit leiser Stimme beklagt sie die Anfeindungen gegen Roma und Juden: „Warum können die Menschen nicht miteinander auskommen?“ Die Ungarn hätten vor 25 Jahren den DDR-Bürgern die Grenze geöffnet, sagt Arpad Bella. Doch das Leben an der Grenze sei von einer Angleichung der Lebensverhältnisse noch immer weit entfernt. „Naiv“ sei der Glaube gewesen, dass „der Friede kommt und alle Menschen Brüder werden“, sagt der frühere Grenzschutzbeamte: „Doch unsere Hoffnungen waren damals einfach größer als der Realitätssinn.“