Nach einem Krankenhausaufenthalt sind ältere Menschen, die sich bisher selber versorgen konnten, häufig verwirrt und pflegebedürftig. Dabei ließe sich das sogenannte Delir mit geringem Aufwand in vielen Fällen verhindern.

Freiburg - Bis vor zwei Jahren lebte Annette Mons ein Leben, mit dem man mit 90 Jahren zufrieden sein darf: Allein in den eigenen vier Wänden, dreimal am Tag kam der Pflegedienst, und am Wochenende griff die Tochter der Mutter unter die Arme und leistete ihr Gesellschaft. Dann kam die Einweisung in die Klinik. Nichts Wildes, die verschlissenen Bandscheiben machten wieder Probleme – und dennoch wohl das Ende eines bis dahin selbstständigen Lebens. „Mutter wusste weder, wer vor ihr stand, noch, wo sie war“, erinnert sich Karin Mons, die Tochter (Namen von der Red. geändert) an ihren ersten Besuch am Krankenbett. Die alte Dame irrte durchs Zimmer und suchte die längst verstorbene Tante. Nach einer Darminfektion und einer Verlegung geriet ihr Leben völlig aus den Fugen: Tagsüber hätte die Mutter geschlafen, nachts die Station verrückt gemacht.

 

Seit damals ist aus der rüstigen alten Dame ein Pflegefall geworden: Sich selbstständig waschen und Medikamente einnehmen, das kann Annette Mons nicht mehr. Und noch immer trifft sie sich angeblich mit Menschen, die schon seit 40 Jahren tot sind. „Hätte ich sie doch einfach zu Hause behalten, sie ein bisschen betüttelt, sie sich ihren Schmerzen hingeben lassen“, grämt sich die Tochter, die selbst Krankenschwester ist. „Wir Pflegenden wissen doch, bei alten Menschen hinterlässt jeder Klinikaufenthalt seine Narben.“

Vor allem die geistige Leistungsfähigkeit leidet

„Ältere Menschen haben oft nicht mehr die Reserven, die Belastungen einer Krankenhausbehandlung wegzustecken“, bestätigt Norbert Lübke, der Leiter des Kompetenzzentrums Geriatrie des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherungen. Das lange Liegen schwächt die ohnehin geschwächten Muskeln, neue Medikamente bringen auch neue Nebenwirkungen, und eine Operation raubt schnell den letzten Rest an Widerstandskraft. Bei vielen ist es aber gerade, wie bei Annette Mons, die geistige Leistungsfähigkeit, die unter dem Klinikaufenthalt leidet.

2012 machte sich der Neuropsychologe Robert Wilson vom Rush University Medical Center in Chicago die Mühe, über neun Jahre zu verfolgen, wie gut sich ältere Menschen von ihrem Klinikaufenthalt erholen. Das Ergebnis: Die Geschwindigkeit des geistigen Abbaus hatte sich verdoppelt: „Nach dem Krankenhaus“, so berichtet er, „waren die Patienten in Bezug auf ihre geistige Leistungsfähigkeit um 14 bis 15 Jahre gealtert.“ Dies galt im Besonderen für diejenigen, die einen komplizierten Krankheitsverlauf erlebt oder schon zuvor mit Gedächtnisproblemen zu kämpfen hatten.

Oft beginnt die Tragödie mit einer vorübergehenden Verwirrung nach einer Narkose oder der Aufnahme auf die Intensivstation: „Die Patienten nehmen die Umwelt nicht mehr richtig wahr, sind oft kaum noch im Bett zu halten. Sie wissen weder, wo sie sind, noch, mit wem sie es zu tun haben“, erklärt der Psychiater Michael Hüll, Chef der Klinik für Geronto- und Neuropsychiatrie in Emmendingen. Andere liegen apathisch im Bett. „Durchgangssyndrom“ nannten Ärzte lange Zeit diesen Zustand. Und noch heute gilt er manchem Mediziner als vorübergehende Phase der Umnachtung, die es mit Beruhigungsmitteln, Neuroleptika oder sogar Fixierungen durchzustehen gilt. Dabei ist ein derartiges Delir, so der Fachbegriff, keine vorübergehende Geschichte. „In der Regel bleibt davon immer etwas hängen“, sagt Hüll. „Je älter und kränker der Patient ist, desto mehr.“ Delirpatienten haben ein mehr als doppelt so hohes Risiko, die Klinik nicht lebend zu verlassen, hat der amerikanische Anästhesist Robert Stevens ermittelt. Und sie verbringen fast eineinhalb Tage mehr auf der Intensivstation und am Beatmungsgerät. Laut der Fachzeitung Jama landen sie mehr als doppelt so häufig nach der Entlassung in einem Pflegeheim.

In der Regel bleibt immer etwas hängen

Dabei wäre ein Delir in vielen Fällen zu verhindern: Am Anfang scheint eine Stoffwechselstörung des Gehirns zu stehen, die den Spiegel der Boten- und Nährstoffe im Kopf durcheinanderbringt und dabei im Nervensystem das Gaspedal durchdrückt. „Dieses Hochpushen scheint eine Art Perpetuum mobile der Verwirrtheit zu erzeugen“, erklärt Michael Hüll. Sei einmal eine kritische Schwelle überschritten, verschlimmere jede weitere Aufregung die Symptome, „weil die Reizschwelle des Gehirns massiv erniedrigt ist“ – und sei es auch nur die Verlegung auf eine andere Station. Als Auslöser der Stoffwechselstörung kommen unterschiedliche Faktoren in Betracht: „Manchmal reicht schon die Kombination von Fieber, Unterzuckerung und bestimmten Antibiotika“, sagt Hüll. Einzelne Schmerzmittel könnten ein Rolle spielen, die Entzündung nach einer Operation, die Narkosemittel, der Bluthochdruck, eine Infektion oder die Niereninsuffizienz – „es gibt 1000 Faktoren, und gerade während des Krankenhausaufenthalts kommen besonders viele von ihnen zusammen“. Sie alle führen im Gehirn zur gleichen fatalen Konsequenz: Nervenzellen sterben, Verbindungen zwischen ihnen lösen sich auf.

Ungewohntes Umfeld belastet Senioren

Zur Verwirrung trägt auch der Klinikalltag bei: „Viele unserer älteren Patienten können sich trotz leichter kognitiver Probleme noch sehr gut im vertrauten Umfeld zu Hause und im regulierten Alltag arrangieren“, sagt die Anästhesistin Simone Gurlit, die am St.-Franziskus-Hospital in Münster die Abteilung für Perioperative Altersmedizin leitet. „Im Krankenhaus passiert dann etwas ganz Schlimmes: Die Spielregeln werden plötzlich von außen neu definiert.“ Oft gebe es keine klaren Tag-und-Nacht-Rhythmen, Bezugspersonen wechselten ständig, dasselbe gelte für Zimmer und Stationen. Auf den gleichförmigen Fluren fehlten Orientierungshilfen. „All diese Einflüsse verlängern die Phase, in der jemand in einem Delir bleibt, und sie erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, dass jemand überhaupt in ein Delir gerät“, sagt die Ärztin.

Weil Gurlit sich schon in der Ausbildung wunderte, dass viele ältere Patienten mit Bagatellproblemen kamen, um als Pflegefall zu gehen, rief sie ein Modellprojekt ins Leben. Ein älterer Mensch, der seitdem als Notfall oder zur Operation im St.-Franziskus-Hospital aufgenommen wird, trifft mit großer Wahrscheinlichkeit mit Gurlits Geriatrie-Team zusammen. Dessen Altenpflegerinnen testen zunächst den kognitiven Status des Neuankömmlings. Ergeben sich Auffälligkeiten, nehmen sie den Patienten unter ihre Fittiche. „Wir sind das stabile Gesicht des Patienten“, sagt eine von ihnen, „sein Beruhigungsmittel auf zwei Beinen.“ Indem sie den Kranken zu Untersuchungen und Eingriffen begleiten, ihn beraten, betreuen und den Kontakt zu den Angehörigen sicherstellen, sollen die Pflegerinnen dem Patienten helfen, sich zurechtzufinden. Gleichzeitig wird versucht, Risikomedikamente zu meiden und bei Narkosen auf schonende, regionale Verfahren zu achten.

Gegenmaßnahmen zahlen sich aus

Im April letzten Jahres belegte ein Team des Evangelischen Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge in Berlin um den Psychiater Torsten Kratz im „Deutschen Ärzteblatt“, wie erfolgreich diese Methoden sind: Seitdem in der untersuchten Klinik delirgefährdete Patienten vorab aufgespürt und intensiver betreut werden, berichten sie, rutsche dort nicht mehr jeder zweite, sondern nur rund jeder zwanzigste ältere Operierte in ein Delir. Nur leider scheinen sich diese Erfolge nicht herumgesprochen zu haben. „In anderen deutschen Kliniken“, klagt Lübke als Leiter der Kompetenzzentrums Geriatrie, „sind solche Programme leider noch eine Rarität.“ Dabei würden sie noch nicht einmal Geld kosten. Simone Gurlit konnte mit ihrem Team beweisen, dass eine intensivere Betreuung älterer Patienten sogar Behandlungskosten spart.

Viele Fälle von Verwirrtheit nach Operationen

Fallzahlen
Rund acht Millionen Menschen im Rentenalter werden jedes Jahr stationär in deutsche Kliniken aufgenommen – jeder fünfte von ihnen, prognostizieren Studien, rutscht in ein Delir. Noch erschreckender ist die Quote bei den fünf Millionen Fällen, in denen ein Mensch über 70 operiert wird: Nach Hüftgelenkseingriffen aufgrund eines Oberschenkelhalsbruches hat fast jeder zweite eine solche Bewusstseinsstörung. Bei herzchirurgischen Eingriffen sind es sogar 80 Prozent.

Statistik
Über die Abrechnungsdaten gemeldet werden pro Jahr nur 40 000 Delirfälle. „Die Kollegen wollen sich ihre Qualitätsstatistiken nicht verderben“, vermutet der Hamburger Geriater Norbert Lübke. Die AOK hat zumindest ermittelt, dass sich nach einem Oberschenkelhalsbruch – einer sehr häufigen Indikation bei alten Menschen – ein Jahr nach dem Eingriff jeder vierte Operierte im Pflegeheim befindet. Das sind rund 25 000 Menschen. Jeder Dritte davon hatte vor dem Eingriff noch zu Hause gelebt.