Vor allem im fortgeschrittenen Alter müssen manche Patienten eine ganze Reihe von Medikamenten einnehmen. Das kann zu unerwünschten Nebenwirkungen führen. Doch Ärzte streichen ihre Verordnungen immer häufiger zusammen.

Stuttgart - Eine 85 Jahre alte Frau zieht sich bei einem Sturz einen Schenkelhalsbruch zu und kommt ins Krankenhaus. Sie wird medizinisch versorgt – und schon stehen die Ärzte vor dem Problem, wie sie adäquat mit der langen Liste an Arzneimitteln umgehen sollen, welche die Patientin einnehmen muss. Denn wie so viele ältere Menschen hat sie mit einer ganzen Reihe an Leiden zu kämpfen. Der Stuttgarter Mediziner Clemens Becker rechnet vor, was da zusammenkommt.

 

Zunächst müssen die akuten Schmerzen der Patientin gelindert werden, wozu zwei Medikamente in Form von sechs Tabletten am Tag einzunehmen sind. Zur Behandlung ihrer bestehenden Parkinson-Erkrankung sind ebenfalls zwei Medikamente mit täglich sechs Tabletten erforderlich. Auch ihr Diabetes benötigt zwei Medikamente, für die aber vier Tabletten genügen. Zwei weitere Arzneimittel mit je einer Tablette sollen ihren Blutdruck senken und noch einmal zwei Tabletten eines anderen Medikaments vorbeugend das Thromboserisiko reduzieren. Zudem erhält sie noch zwei Dosen eines Mittels gegen Verstopfung und eine Tablette eines Schlafmittels. Insgesamt bekommt diese Patientin täglich 23 Tabletten, sagt Clemens Becker, der am Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus die Abteilung Altersmedizin und Rehabilitation leitet. Dieses typische Fallbeispiel könnte auch gut auf sein Krankenhaus zutreffen, betont der Chefarzt. In der Praxis könnte es sogar durchaus noch „heftiger“ sein, etwa wenn Herz- und Kreislauferkrankungen zu behandeln sind.

Bei so vielen Medikamenten lässt sich kaum noch abschätzen, wie sich die Wirkungen der einzelnen Arzneimittel gegenseitig beeinflussen – ob sie sich verstärken, abschwächen oder in ihrer Kombination zu unerwünschten Nebenwirkungen führen. Hinzu kommt, dass manche Medikamente bei älteren Menschen anders wirken als bei jüngeren – und dabei zu neuen Risiken führen. Potenziell inadäquate Medikation (kurz: PIM) heißt das im Fachjargon. Studien zufolge liegt der Anteil von älteren Patienten, die vom Arzt mindestens eine PIM-Verordnung verschrieben bekommen, bei 20 bis 25 Prozent. Frauen sind dabei stärker betroffen als Männer.

Ärzte fahnden nach unnötigen Verschreibungen . . .

Die möglichen Folgen, etwa ein erhöhtes Sturzrisiko, können gesundheitlich wie finanziell gravierend sein, weil sie zu mehr Leiden sowie Arztbesuchen und Klinikaufenthalten führen. Inzwischen ist die Tendenz solcher PIM-Verordnungen allerdings rückläufig. Ein wesentlicher Grund ist die sogenannte Priscus-Liste, die 2010 veröffentlich wurde. Erarbeitet wurde sie im Rahmen des vom Bundesgesundheitsministerium initiierten Aktionsplans Arzneimitteltherapiesicherheit. Sie listet Medikamente und Arzneistoffklassen auf, die für Patienten ab 65 Jahren als potenziell inadäquat bewertet werden.

Doch es geht nicht nur um die Verordnung von Medikamenten, sondern um ärztliche Leistungen insgesamt. Auf diesem Gebiet ist in den USA die Ärzte-Initiative „Choosing wisely“ (Deutsch: „klug entscheiden“) aktiv. Seit 2012 veröffentlicht sie Listen mit unnötigen oder sogar schädlichen Behandlungen. In der Schweiz gibt es seit vergangenem Jahr eine ähnliche Liste. Keine Antibiotika gegen Infekte der Atemwege verschreiben oder kein Osteoporose-Screening bei Frauen unter 65 Jahren, wenn kein erhöhtes Risiko vorliegt – so lauten beispielsweise die Empfehlungen der amerikanischen und schweizerischen Initiativen.

Erfahrungsgemäß lassen sich die Verhältnisse in anderen Ländern allerdings nicht ohne Weiteres auf Deutschland übertragen. Daher soll sich nun in der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) die Arbeitsgruppe „Unnötige Leistungen“ des Problems annehmen. „Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass ein Zuviel an medizinischer Fürsorge ähnlichen Schaden anrichten kann wie das Unterlassen einer nötigen Leistung“, gab der Göttinger Internist und jetzige DGIM-Vorsitzende Gerd Hasenfuß anlässlich der Jahrestagung der Gesellschaft im April zu bedenken.

. . . und fordern „klügere Entscheidungen“

„Kluge Entscheidungen“ für die medizinische Behandlung älterer Menschen können die Ärzte aber schon jetzt treffen. „Keine künstliche Ernährung mit Magensonden bei fortgeschrittener Demenz“, führt Clemens Becker als Beispiel an. Stattdessen sei eine „individuell angepasste orale Nahrungsgabe“ vorzuziehen – auch wenn dies aufwendig und teilweise schwierig sei, wie der Altersmediziner unumwunden einräumt. Des Weiteren sollten keine Benzodiazepine oder andere beruhigende Psychopharmaka gegeben werden, um etwa Schlafstörungen oder krankhafte Unruhe (Agitation) über Tage und Wochen zu behandeln. Damit wachse das Risiko für Stürze, Hüftfrakturen, Gedächtnisstörungen und Verwirrung. Und schließlich werde Diabetes bei Menschen, die älter als 80 Jahre sind, oft „zu aggressiv“ behandelt.

Nach wie vor wissen viele Ärzte über diese Zusammenhänge zu wenig Bescheid, klagen Altersmediziner. Auch lässt sich die Zusammenarbeit zwischen Kliniken und Hausärzten nach der Entlassung der Patienten vielerorts noch deutlich optimieren. Doch nach Einschätzung von Clemens Becker verbessert sich die Situation, wenn auch nur langsam. Dazu trägt bei, dass an manchen Universitäten Altersmedizin inzwischen explizit auf dem Lehrplan steht.

Zudem soll mehr dafür getan werden, ältere Menschen bei der Behandlung mitzunehmen und sie nicht nur mit Arzneimittelrezepten „abzuspeisen“. Dazu zählt in verstärktem Maße Prävention, zu der – gerade auch bei älteren Menschen – vor allem Bewegung und richtige Ernährung gehören sowie, falls erforderlich, eine Änderung des Lebensstils. Hier erwarten sich die Mediziner vom neuen Präventionsgesetz, das der Bundestag im Frühjahr in erster Lesung beraten hat, deutliche Verbesserungen.

Fachleute wie Clemens Becker weisen außerdem darauf hin, dass viele „Babyboomer“ der Nachkriegsjahre eine ganz andere Haltung zum Leben im Rentenalter haben werden als ihre Eltern und Großeltern – nämlich höhere Erwartungen an die eigene Gesundheit. Umso wichtiger wird es für manch einen Mediziner werden, die bisherige Behandlungspraxis vor allem auch bei älteren Patienten zu überdenken. „Es geht darum, dass man Menschen vernünftig mit Augenmaß behandelt und das mit ihnen bespricht“, fasst Becker das Ziel zusammen.

Die Behandlung älterer Patienten

Verbundprojekt
Das Verbundprojekt „Priscus“ (lateinisch: alt, ehrwürdig) sollte Fragen zur Behandlung älterer Menschen mit mehreren Krankheiten klären.

Negativliste
Ein Ziel des Priscus-Projekts war die Erstellung einer Liste mit Arzneistoffen,die bei älteren Menschen vermieden werden sollten. Die Priscus-Liste wurde im Rahmen einer Expertenbefragung erstellt und 2010 veröffentlicht. Dabei wurden 83 Arzneistoffe aus 18 Arzneistoffklassen als potenziellinadäquat für ältere Menschen bewertet.

Positivliste
Die Liste des Projekts „Forta“ (Fit for the Aged) weist im Gegensatz zur Priscus-Liste nicht nur auf Arzneien hin, die nicht gegeben werden sollten, sondern auch auf solche, die im Alter nützlich und verträglich sind.