Der Umgang mit der Historie der Kinderheime der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal kann beispielgebend werden. Doch bis dahin braucht es Geduld.

Korntal-Münchingen - Es sind nur 45 Minuten gewesen, dann war die Pressekonferenz am Dienstag im Korntaler Landschloss schon zu Ende. Doch diese Dreiviertelstunde hatte es in sich. Denn es wurde vor allem eines deutlich: die Aufarbeitung der Heimgeschichte der evangelischen Brüdergemeinde Korntal hat eine größere, bislang ungeahnte Dimension. Sie wird, so sie gelingt, aufgrund ihrer Komplexität wohl bundesweit beispielgebend sein. Das ungewöhnlich große Medieninteresse dürfte ein Indiz dafür sein.

 

Wird umgesetzt, was die Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Wolff, die die Aufarbeitung leiten soll, nach dem ersten Treffen mit ehemaligen Heimkindern und Vertretern der Brüdergemeinde skizziert hat, stünde die pietistische Gemeinde auch für den offensiven Umgang mit einer unrühmlichen Historie, die mit sexuellem Missbrauch verbunden ist. Denn dafür, dass Gewalt und Einschüchterung keine Erziehungsmittel mehr sind, gibt es heute Kontrollmechanismen, darauf verweist die Brüdergemeinde schon jetzt. Sie hat einen Ruf zu verlieren. Als kreisweit angesehener Jugendhilfeträger verantwortet die Diakonie zwei Heime und eine Schule.

Bislang wird bundesweit bei derlei Aufarbeitungen der Fokus auf die Zeit von den Nachkriegsjahren bis 1975 gerichtet. Die Korntaler gehen weiter, sie wollen einen Zeitraum bis zum Jahr 2000 unter die Lupe nehmen. „Dort, wo Unrecht geschehen ist, geht es nicht um Zeiträume, sondern um Tatsachen“, sagt der weltliche Vorsteher der Brüdergemeinde, Klaus Andersen. Dafür sowie für das Unrecht selbst wird die Gemeinde in dem vergleichsweise kleinen Ort ein Bewusstsein schaffen müssen.

Es soll eine Erinnerungskultur entstehen, die Bürger mit der Historie konfrontiert, ob sie wollen oder nicht. Das gilt vor allem, wenn – noch lebende – Funktionäre und Institutionen hinterfragt werden. „Es muss sichtbar werden, dass Unrecht passiert ist“, sagt Wolff. Dies alles wird geschehen, während sich die Brüdergemeinde mit dem Betroffenen Detlev Zander vor Gericht streitet. Offen ist, ob andere einstige Heimkinder seinem Schritt folgen werden.

Die Wissenschaftlerin Mechthild Wolff hatte in der Pressekonferenz das Thema umrissen. Zugleich wies sie allen Beteiligten ihren Platz in diesem Prozess zu. Dabei ist sie souverän im Auftritt, verbindlich im Ton, unmissverständlich in der Aussage. „Ohne vertrauensvolles Miteinander geht keine Aufarbeitung“, sagt sie und verbittet sich damit die bisher unglückliche Öffentlichkeitsarbeit sowohl der Heimopfer als auch der Brüdergemeinde.

Die Öffentlichkeit wiederum wird sich an eine „Entschleunigung“ gewöhnen müssen: „Wir werden in einer hochversachlichten Situation die Dinge auf den Weg bringen.“ Zunächst müssten Skepsis und Misstrauen auf beiden Seiten ausgeräumt werden. Weil es nur „wenige Vorläufer von Institutionen gibt, die sich auf den Weg gemacht haben“, gebe es auch kein Muster, nach dem Aufklärung funktioniere. „So weit sind wir noch gar nicht in Deutschland.“ Doch Wolff bringt Erfahrung mit: Bei der Rummelsberger Brüderschaft in Franken hat sie die Aufarbeitung geleitet, nachdem 2007 bekannt geworden war, dass der damalige Leiter Diakonenschüler misshandelt hatte.

Sie warnt also vor schnellen Ergebnissen. Denn auch nach dem glaubhaften Bemühen um einen guten Start könnte das Projekt noch platzen. Wolff ist es ernst, betonte sie am 13. Januar, einem für sie besonderen Tag. „Dass ich meinen Geburtstag geopfert habe, sollte schon ein Signal sein“, sagt die 53-Jährige. Sie habe „ein gutes Gefühl“ nach dem ersten Gespräch. Ein zweites soll es vor dem nächsten Opfertreffen geben, das im März stattfindet. Bis dahin werden sich Ehemalige ebenso wie die Brüdergemeinde in ihre Rolle finden müssen. Beide, die bisher so selbstbewusst auftraten, reagieren nun als in sich geschlossener Teil innerhalb einer Projektstruktur. Vor allem die Interessengemeinschaft Heimopfer muss zunächst Sprecher wählen, die die Betroffenen in dem paritätisch besetzten Gremium vertreten soll, das die Aufarbeitung steuern wird. Das dürfte nicht leicht werden, die Interessen sind vielschichtig, und nicht jeder ist so selbstsicher wie Zander, der sagt: „Ich bin kein Opfer. Opfer sind hilflos.“

Das Gremium wird die Frage beantworten müssen, wie die Aufarbeitung der Heimgeschichte konkret umgesetzt werden soll. Wie wird das Projekt dauerhaft finanziert und vor allem: wer hilft bei der Realisierung? Mechthild Wolff schließt nicht aus, wissenschaftliche Mitarbeiter hinzuzuziehen oder ein Forschungsprojekt mit ihren Studenten zu machen.

Auch diese Fragen werden nicht auf die Schnelle geklärt werden können, doch das Thema wird die Öffentlichkeit weiter beschäftigen: Auf dem Kirchentag im Juni in Stuttgart soll es zum Gegenstand einer Diskussion werden – was ungewöhnlich ist. Normalerweise werden dort keine derart aktuellen Themen diskutiert.