Brecht-Abend? Klingt langweilig. Die Augsburger Band Misuk hat der Lyrik des überzeugten Kommunisten einen zeitgenössischen Sound gegeben. Richtig spannend wurde es aber schon davor.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Man muss aufpassen, weil einem das Wort Eklat ja relativ leicht von der Zunge geht. Vielleicht war es auch kein Eklat, der am Samstagabend im Stuttgarter Kulturzentrum Merlin passiert ist. Aber es ist zumindest bemerkenswert, wenn es der Künstler im Vorprogramm schafft, dass ungefähr ein Drittel des Publikums den bestuhlten Saal verlässt - und das nicht, weil die Musik so schlecht wäre.

 

Dominik Gerwald, der bei seinem Künstlernamen ein "von" einschiebt, ist eigentlich Sänger der recht erfolgreichen Stuttgarter Band Yasmine Tourist: die machen konsensfähige Musik, die Liebende zum Kuscheln einlädt. Seit einiger Zeit gibt er auch Solokonzerte und will da ganz offensichtlich weg vom Yasmine-Tourist-Programm. Genauer: Seit einem Auftritt bei der Release-Party des Songwriter-Kollegen BRTHR hängt sich von Gerwald bei Auftritten einen schwarzen Schleier vors Gesicht. Ansagen macht er quasi keine, hebt nur zwischenzeitlich einmal die Hand. Er singt, begleitet von Beats und elektronischen Klängen aus dem Laptop, von brennenden Teufeln, tötet in einem Song Huckleberry Finn und singt dem Publikum vor, dass seine Zeit bald ablaufe. 

Um diese Show zu verstehen, muss man sie von dem abgrenzen, was man typischerweise erwartet, wenn sich ein Mann allein mit seiner Gitarre auf die Bühne stellt: Singer-Songwriter-Musik, ein bisschen Folk, schöne Melodien und emotionale Texte, perlende Gitarrenakkorde, ein bisschen so wie U2-Gitarrist The Edge in einem der wenigen U2-Songs, bei denen er singt: Van Diemen's Land; diesen Song hat von Gerwald auf Facebook mal als einzigen U2-Song gelobt, den er wirklich möge. 

Das ist dem Publikum zu viel

Genau so ist von Gerwalds Auftritt aber nicht. Sondern: düster, verstörend. Von Gerwalds Stimme ist teilweise fast ohne Hall gemischt; das klingt dann stellenweise fast gequält, eben nicht wie die sonst übliche Singer-Songwriter-Wohlfühlmusik. Dazu der Schleier, von einem Mann getragen: man kann daraus viele Zeichen lesen, vor allem ist es ein ungewöhnlicher Anblick - einen, den man so wenig einordnen kann wie von Gerwalds Musik.

Dem Publikum, das eigentlich für eine zeitgenössische Vertonung von Brecht-Texten gekommen war, ist das zu viel. Ungefähr ein Drittel der Gäste verlässt während des Auftritts von Dominik von Gerwald den Raum, andere wenden sich demonstrativ ab. 

Seite 2: Inszenierung statt Ideologie

Was ist da los? Man muss sich daran erinnern, dass hier ein Brecht-Abend angekündigt ist. Texte des 1956 in Ost-Berlin verstorbenen kommunistischen Autors also, der das Publikum in der Weimarer Republik hochgradig polarisierte, dessen Aufführungen von Nazis mit Stinkbomben gestört wurden. Dessen Dreigroschenoper von Kurt Weill mit einer Musik unterlegt wurde, die heute noch schwer anzuhören ist. Verfremdungseffekt - das Wort kennt jeder noch aus dem Deutsch-LK. Brecht will die Verfremdung, also dass es sich die Zuhörer gerade nicht im Bekannt-Heimeligen bequem machen und so nicht den konkreten Missstand, sondern sozusagen das Abstrakte dahinter erkennen. 

Schwere Kost. Aber Brecht hat es längst in den Kanon geschafft. Mit seinem Namen weckt man die Aufmerksamkeit von Feuilletonisten. Doch über die Jahrzehnte wurde dieser Autor auch weichgespült von all den Brecht-Festivals. Die Verfremdung zählt heute zum Standardrepertoire jedes Jungregisseurs, und derart im Mainstream aufgegangen, hat Brecht seinen Schrecken verloren. Auch inhaltlich: Brecht-Texte, so aktuell sie in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise, europäischer Massenarbeitslosigkeit und politischer Radikalisierung sein mögen, schrecken niemanden mehr. Mit anderen Worten: Man geht nicht ins Merlin, um sich politisch auf Linie zu bringen.

Misuk aus Augsburg wissen das, und auch ihr Programm ist weniger auf Ideologie ausgerichtet als auf Inszenierung. Das soll nicht sagen, dass das Brecht-Programm dieser Musiker inhaltsleer und auf Äußerlichkeiten gerichtet ist. Vielmehr nimmt die Band die Brecht-Lyrik einfach als gesetzt und konzentriert sich darauf, dazu passende Musik zu spielen. Oder eben Misuk: eine Erfindung von Brecht, der in seiner eigenen Musiktheorie allen ideologischen Ballast von der Musik abwerfen und eine eigene, modern-sozialistische Volkskunst, eben Misuk, entwickeln wollte. 

Wie die Knef

Das ist also das Programm der nach diesem Programm benannten Band aus Augsburg. Und sie setzt das ganz hervorragend um: Eine tanzbare Rhyhtmusgruppe, ab und zu sehr perkussiv gespielte Gitarren und sparsam eingesetzte Synthesizer, das wäre tatsächlich clubtauglich. Ja, auf einen so vorgetragenen Brecht könnte man ausgelassen tanzen! Im bestuhlten Merlin müssen sich die Gäste aufs Mitwippen beschränken - oder darauf, die fast theaterreife Performance der Sängerin Eva Gold zu verfolgen. Sie hüpft nur so durch die Oktaven, erinnert in ihren durchdringendsten Momenten an die Knef oder auch an Nina Hagen.  

MISUK - Solidaritätslied from heimspiel on Vimeo.

Was dabei klar wird: Brechts Texte sind immer noch aktuell. Das ist der pädagogische Wert der Band Misuk: mit ihr können auch solche Leute Brecht entdecken, die etwa in der Schule einfach nichts mit ihm anfangen konnten. Es ist eine gute Zeit, Brecht (neu) zu entdecken: Die Zeiten sind ähnlich rau wie in der mittleren und späten Weimarer Republik, und wer bei Brechts "Solidaritätslied" die Proletarier einfach durch die Millionen junger Arbeitsloser ersetzt, hätte prompt einen Aufruf zur europäischen Verbrüderung. Im Mai ist übrigens Europawahl.

Dass nun manchem Zuhörer vielleicht weniger dieses wundervolle, überzeugende und stimmige Konzert von Misuk in Erinnerung bleibt, sondern eher der vorangegangene Auftritt von Dominik von Gerwald, ist doch eine schöne kleine Ironie. Die neu vertonten Brecht-Texte, die in der Weimarer Republik zu Tumulten im Publikum sorgten, werden vom gesittet-gebildeten Merlin-Publikum so intellektuell und doch distanziert aufgenommen wie all die anderen in Oper, Theater oder Klassikkonzert kanonisierten, ehemals teils hoch politischen Werke von Verdi, Schiller, Beethoven und Konsorten. Stattdessen wühlt ausgerechnet der Support-Act, wegen dem kaum jemand da ist, die Leute so auf, wie Brecht das ursprünglich mit seinen Texten vorhatte.