Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Trotz der Vielfalt an Ratschlägen und Ratgebern quälen sich viele Eltern mit der Frage, ob ihre Erziehung gerecht ist. Sie plagt zum Beispiel ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihrem zweiten Kind, dem es egal sein dürfte, die alten Strampler des Erstgeborenen anziehen. Hätte es nicht ein Recht auf neue Kleider? Und ist es moralisch vertretbar, das zweite Kind früher abzustillen als das erste? Auch das Eingeständnis, einem Kind näherzustehen als dem anderen, treibt Müttern und Vätern die Schamröte ins Gesicht. Andrea Kubiak empfiehlt, diese Gefühle zuzulassen und sich bewusstzumachen, dass das Leben aus Phasen besteht. „In der nächsten Phase kann sich die Gefühlslage umkehren“, sagt sie. So folgt auf eine enge Mutter-Tochter-Beziehung in der Pubertät erfahrungsgemäß die Ablösung, wenn auf einmal die Tochter gegen die Mutter aufbegehrt.

 

Wolfgang Bergmann bezeichnete das verzweifelte Streben nach Gerechtigkeit als „typisch deutsches Phänomen“. Er stellte fest, dass in keiner anderen Erziehungskultur das Thema Gerechtigkeit so hoch gehängt wird. Die teilweise antiquierten Vorstellungen von Gerechtigkeit werden von Generation zu Generation übertragen. Das beobachtet auch die Familientherapeutin Kubiak. „Oft stellt sich heraus, dass nicht das Kind Probleme bereitet, sondern die Biografie der Eltern“, erzählt sie. Wer ein Leben lang dazu angehalten wurde, jede Handlung moralisch zu hinterfragen, kann diesen Anspruch später nur schwer ablegen.

Kinder müssen lernen, dass es auch ungerecht zugehen kann

Dabei sollten Eltern ihren Kindern vorleben, dass man auch einmal Fehler machen darf. „Wichtig ist, dass die Familie darüber spricht“, betont Andrea Kubiak. So lernt das Kind zweierlei: Ungerechtigkeit zu ertragen und selbst nicht perfekt sein zu müssen. Eine Erkenntnis, die für ein gesundes Selbstvertrauen wesentlich ist. „Kinder werden heute schon sehr früh dem Leistungsdruck in der Gesellschaft ausgesetzt“, hat Kubiak beobachtet. Strebten Eltern selbst nach Perfektionismus, seien Versagensängste programmiert. „Eltern können dem leicht vorbeugen, indem sie mit sich selbst nicht so streng sind.“