Eine Schreibkraft der Polizei wird von einem Kollegen schikaniert. Im Zuge der Aufklärung gerät sie zwischen die Fronten. Auf der einen Seite stehen Vorgesetzte, die den Fall tiefer hängen. Auf der anderen Berater mit eigenen Interessen.

Stuttgart - Morgens, wenn sie in ihr Büro kam, war mal der Stuhl verstellt, mal der Bildschirm. Mal stürzte die Gardinenstange auf sie herab, mal lag eine tote Fliege auf dem Schreibtisch. „Anfangs habe ich gar nicht gedacht, dass das etwas mit Mobbing zu tun haben könnte“, erzählt sie. Die Sekretärin fragte die Kollegen, wer immer ihren Stuhl verstelle. Die zuckten die Achseln.

 

Die Frau brachte alles wieder in Position, räumte die Fliegen weg und arbeitete weiter. Am nächsten Tag war wieder etwas verstellt, am übernächsten Tag auch und am darauffolgenden ebenfalls. Als ein neues Programm eingeführt wurde, waren in ihrem Computer immer wieder die Bildschirmansichten durcheinander. Dann wieder war das Erfassungsprogramm auf Italienisch umgestellt, als sie eilige Texte schreiben sollte. Die Sekretärin fragte sich, ob sie jemand ärgern wolle. Die Kollegen fragten sich, was mit der Sekretärin nicht stimme. Wer macht schon so viel Aufhebens um einen verstellten Stuhl. Irgendwann hieß es, die spinnt doch.

Viele Chefs ducken sich weg

Edith Schellhammer benutzt den Begriff „Mobbing“ nur noch selten. Und das, obwohl sie die Leiterin der Mobbing-Hotline Baden-Württemberg ist und eine ausgewiesene Expertin. Doch Schellhammer betrachtet wie viele andere Fachleute Mobbing inzwischen als eine besonders schwere Form eines hoch eskalierten Konfliktes. Ihrer Erfahrung nach „verdeckt der Begriff Mobbing heute mehr, als er aufklärt.“ Er nütze nichts, sondern erschwere es nur, Konflikte zu lösen wie im Fall der Schreibkraft der Polizei in Ludwigsburg.

Schellhammer spricht nicht mehr von „den Tätern“ und „den Opfern“, sondern lieber von einem Konflikt, in dem viele Faktoren eine Rolle spielen und der in Phasen verläuft. Am Anfang stünden häufig kleine unaufgearbeitete Missverständnisse, die letztlich zu massiven Zerwürfnissen führten – Beleidigungen, Ausgrenzungen oder üble Nachrede. Oft seien die Führungskräfte in solchen Fällen schlecht auf ihre Rolle vorbereitet und „überfordert, wenn es darum geht, Konflikte rechtzeitig und konstruktiv zu lösen.“ Das Ergebnis: viele Chefs ducken sich weg – nicht nur bei der Polizei.

Ein Video bestätigt den Verdacht

Die Sekretärin begann, von Mobbing zu sprechen. Sie beschwerte sich bei ihrem Chef. Er wies sie darauf hin, dass es schließlich nicht ihr persönliches Büro sei, und vermutete, dass sie sich alles einbilde. Die Frau wurde immer nervöser. Schließlich begann die Schreibkraft der Polizei, in eigener Sache zu ermitteln: Im Juni vor zwei Jahren, nach Monaten voller kleiner Störungen, besorgte sie sich eine Videokamera und installierte sie heimlich in ihrem Büro. Das Video zeigt, wie ein Kriminalhauptkommissar Tag für Tag das Büro betritt. Er schaut sich um, überlegt, dann verstellt er den Stuhl, verschiebt den Bildschirm, platziert eine tote Fliege auf dem Schreibtisch, manipuliert die Vorhangstange, jeden Tag.

Jetzt, denkt die Sekretärin, wird alles gut. Sie hat den Beweis. Sie ist keine Spinnerin. Sie will ihr Recht, will ernst genommen werden. Doch damit eskaliert der Konflikt. Sie setzt ihrem Chef eine Frist: Das Mobbing müsse bis zum Monatsende beendet werden. Die beiden geraten in Streit. Die Schreibkraft ist mit ihren Nerven am Ende. Sie schreibt eine Mail an die Kollegen. Sie nennt keinen Namen, aber schreibt von Beweisen und von Mobbing. Ihr Chef tobt. Überraschend ist das nicht.

Konfliktberater wird eingeschaltet

„Die Skandalisierung durch den Begriff Mobbing macht unsere Arbeit enorm schwer“, sagt Edith Schellhammer. Das Wort enthalte einen so hohen Grad an Beschuldigung, „da lassen sich vermeintliche Täter und Vorgesetzte auf kein Gespräch mehr ein“. Keine gute Voraussetzung, einen Konflikt zu lösen. Erst recht nicht bei der Polizei oder in anderen Arbeitsbereichen, in denen es einen ausgeprägten Zusammenhalt gibt. Fachleute sprechen mit Blick auf die Polizei von einem Korpsgeist, der die Lösung vieler Konflikte erschwere.

Weil sich die Sekretärin und ihr Chef nicht einig werden, wird ein Konfliktberater der Polizei eingeschaltet. Die Sekretärin trifft sich mit ihm und zeigt ihm das Video. Zu dem Gespräch hat sie Gisbert Chluba mitgebracht, ihren Mobbingberater. Der gelernte Banker ist Mitbegründer des Mobbing Competence Centers, eines Zusammenschlusses von Mediatoren, Coaches und Anwälten, die Beratung für Mobbingopfer anbieten. Wer die Begriffe „Mobbing“ und „Beratung“ googelt, wird von Treffern überflutet. Das Mobbing Competence Center (MCC) aber steht bereits an sechster Stelle, fast direkt unter der Mobbing Hotline Baden-Württemberg, die Edith Schellhammer leitet.

Professionelle Hilfe

Die Hotline wurde 2008 gegründet, das MCC ein Jahr später. Beide werben im Internet, beide bieten landesweit eine telefonische Erstberatung an und verweisen dann an ein Netzwerk von Beratern vor Ort. Die Hotline ist ein Forschungsprojekt der Deutschen Rentenversicherungsanstalt. Beteiligt sind Kirchen sowie der Deutsche Gewerkschaftsbund. Ihre 70 Berater sind geschult, haben einen seelsorgerischen oder therapeutischen Hintergrund. Die bis zu zweistündige Beratung ist kostenlos. Die Berater vor Ort, die das Netzwerk vermittelt, sind auf ihre Eignung überprüft worden, viele sind von den Kirchen finanzierte Betriebsseelsorger. Die MCC-Berater hingegen erheben nach dem etwa halbstündigen Erstgespräch eine Gebühr von 83 Euro pro Stunde. Ihr Zusammenschluss entstand aus einem Netzwerk von freien Coaches und Anwälten in Stuttgart, die sich für das Thema Mobbing interessierten.

Manche Betriebsseelsorger sind skeptisch, wenn mit Beratung Geld verdient wird. Viele sind schon häufiger auf unseriöse Anbieter gestoßen. Ein Berater aus dem Kirchendienst sagt: „Es gibt Freiberufler, die alles machen. Die haben keine richtige Spezialisierung, sondern grasen alles ab – denn sie müssen Umsatz machen.“

Das Gespräch des Konfliktberaters der Polizei mit der Sekretärin und dem Berater Chluba scheitert. Die Sekretärin fühlt sich nicht ernst genommen und befürchtet, dass der Konfliktberater insgeheim mit dem Täter befreundet ist. Beide waren zusammen auf der Polizeischule. Chluba bestärkt sie: Der Konfliktberater, so resümiert er, sei eine Lachnummer gewesen. Er habe alles verharmlost.

Viele Opfer wünschen sich eine Entschuldigung

Weitere Gespräche folgen. Die Kollegen werden informiert, dass es Beweise für das Mobbing gebe und sich die Sekretärin nichts eingebildet habe. „Wir müssen uns jetzt wieder auf die Arbeit konzentrieren“, sagt der Vorgesetzte und erklärt das Thema für beendet. Doch die Sekretärin ist enttäuscht. Sie hatte auf eine offene Aussprache mit den Kollegen gehofft und auf eine Entschuldigung, weil man sie als Spinnerin abgetan hatte. Darunter hat sie am meisten gelitten. Aber die Entschuldigung bekommt sie nicht, nur vom Täter – unter dem Druck der Vorgesetzten.

Betriebsseelsorger und Therapeuten aus der Region Stuttgart berichten, dass sich viele Mobbingopfer eine Entschuldigung wünschten – eine Form von Gerechtigkeit. Sie hofften auf die Einsicht der anderen, dass ihnen Unrecht widerfahren sei. Tatsächlich geschieht das selten. Deswegen konzentrieren sich diese Berater eher darauf, mit Betroffenen den Weg in eine positivere Zukunft am Arbeitsplatz zu finden.

Die Sekretärin leidet weiter. Manche Kollegen wollen immer noch nicht glauben, dass sie gemobbt wurde – obwohl die Chefetage das bestätigt hat. Hinter ihrem Rücken wird gelästert und getuschelt – zumindest empfindet es die Sekretärin so. Sie wendet sich erneut an ihre Vorgesetzten. Doch die reagieren nicht. Die Frau ist am Ende ihrer Kräfte. Am 14. August 2012 wird sie krankgeschrieben. Seitdem hat sie nicht mehr gearbeitet. Der Konflikt aber schwelt zwischen der Sekretärin und ihren Vorgesetzten weiter.

Einfach in eine andere Abteilung wechseln?

Die Frau sucht Hilfe beim Polizeiärztlichen Dienst – bekommt aber aus ihrer Sicht keine Unterstützung. Sie wendet sich erneut an den Berater Chluba. Dieser informiert den Leiter der Ludwigsburger Polizeidirektion, Frank Rebholz, über den Fall. Am 6. Februar dieses Jahres trifft sich Rebholz mit der Sekretärin und Chluba. Der Polizeichef entschuldigt sich für die Vorfälle und bietet der Sekretärin an, künftig in einer anderen Abteilung zu arbeiten. Doch die Sekretärin und Chluba befürchten, dass ihr Gerüchte und Lästereien in eine andere Abteilung folgen würden. Schließlich kenne bei der Polizei jeder jeden, argumentieren sie. Die Sekretärin und Chluba fordern eine Mediation in der alten Abteilung und eine ernsthafte Wiederherstellung des guten Rufs der Sekretärin. Chluba könnte die Mediation übernehmen. Rebholz lehnt ab.

Rebholz informiert die Staatsanwaltschaft über den Mobbingfall. Sie muss untersuchen, ob eine Straftat vorliegt. Doch Mobbing allein ist in Deutschland – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern und den USA – keine Straftat. Das Verfahren wird eingestellt. Am 26. April leitet Rebholz nach weiteren Gesprächen mit der Sekretärin ein Disziplinarverfahren ein. Das Verfahren soll nicht nur die Taten des Hauptkommissars aufklären, sondern auch die Rolle der Kollegen und Vorgesetzten in dem Fall untersuchen. Bis heute ist es nicht abgeschlossen. Wann ein Ergebnis vorliegen wird, kann Rebholz nicht sagen.

Berater war selbst einmal Opfer

Die Sekretärin fühlt sich vom Chef der Polizeidirektion hingehalten. Sie glaubt mittlerweile, dass alle unter einer Decke stecken. Den Vorschlag, die Abteilung zu wechseln, hält sie für eine Zumutung. „Die können mich doch nicht einfach so ohne Schutz und ohne Rehabilitation dahin schicken“, sagt sie. Der Berater Chluba bestärkt sie: „Es hat sich herauskristallisiert, dass es für sie keinen Weg zurück gibt.“ Das sei in den meisten Fällen so. Dieses Urteil halten andere Fachleute für Unsinn. Natürlich gebe es solche Fälle. Die Regel seien sie nicht. Alles hänge vom Einzelfall ab und der Bereitschaft der Betroffenen, den Konflikt zu lösen.

Die Sekretärin hat nicht den Eindruck, dass es Rebholz mit der Konfliktlösung ernst ist. Sie glaubt: „Der will das am liebsten alles unter den Teppich kehren.“ Sie zieht noch einen zweiten Berater von MCC hinzu, der früher selbst Opfer von Mobbing geworden ist. Viele Betriebsseelsorger und Therapeuten warnen jedoch genau vor dieser Konstellation. Häufig führe das zu einer weiteren Eskalation. Der Therapeut und Forscher Josef Schwickerath fasst das Problem so zusammen: „Ob ein ehemaliger Betroffener ein guter Berater ist, hängt davon ab, wie gut er seinen Fall verarbeitet hat.“ Denn „man muss gut erkennen können, was die eigenen Anteile und was die Anteile des Unternehmens an einem Konflikt sind“. Dafür aber brauche es Distanz.

Experten raten davon ab, vor Gericht zu ziehen

Die Sekretärin will sich nicht länger hinhalten lassen. Die beiden Mobbingberater haben ihr den Kontakt zu einer Anwältin vermittelt, die ebenfalls ein Teil des MCC-Netzwerks ist. Die Berater raten zur Klage, die Anwältin auch. „Man muss den Arbeitgeber zum Handeln zwingen“, sagt Chluba. In den kommenden Tagen wird beim Landespolizeipräsidenten ein Schreiben eingehen. Es enthält eine Forderung im mittleren fünfstelligen Bereich, die sich aus Schmerzensgeld, Ausgaben für Berater und Anwältin und dem Verdienstausfall durch einen vorzeitigen Ruhestand zusammensetzt. Als Beschuldigte sind darin Rebholz und die direkten Vorgesetzten der Frau genannt. Sie hätten ihre Fürsorgepflicht gegenüber der Sekretärin nicht erfüllt. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Land auf die Forderung eingeht, ist gering. Vermutlich wird die Sekretärin den Polizeichef und seine Mitarbeiter vor dem Arbeitsgericht in Stuttgart wiedertreffen.

Experten raten meist davon ab, vor Gericht zu ziehen. Die Chancen, recht zu bekommen, seien gering, die Verfahren kräftezehrend und für viele Opfer desaströs – selbst bei einem Erfolg. Eine Seelsorgerin berichtet von Fällen, bei denen die Opfer an der Belastung zerbrochen sind. „Die haben dann jahrelang nur noch ein Thema, um das sich ihr ganzes Leben dreht.“ Ein anderer Seelsorger berichtet: „Ich sage immer zu den Leuten: Wollen Sie Genugtuung auf Teufel komm raus und vielleicht daran zugrunde gehen, oder wollen sie lernen, besser zurechtzukommen?“ Ein Dritter ärgert sich über die große Zahl geschäftstüchtiger Berater und Anwälte, die Opfer „in solche Situationen jagen“.

Die Sekretärin hat keine Rechtsschutzversicherung. Sie hat schon „viel Geld“, wie sie selbst sagt, für die Berater ausgegeben. Wenn sie mit der Klage keinen Erfolg hat, kommen die Anwalts- und Gerichtskosten hinzu. Aber sie ist bereit, das Risiko einzugehen. Sie will, dass allen Kollegen klar wird, dass ihr Unrecht getan wurde.