Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Eigentlich hätte Cem Özdemir (50) den Satz sagen können, mit dem Angela Merkel das TV-Duell vor der Bundestagswahl 2013 für sich entschieden hat: Sie kennen mich. Das sagt er aber natürlich nicht in seinem Bewerbungsvideo. Özdemir ist ein Phänomen: Allein dass er sich seit acht Jahren mit wechselnden Partnerinnen an der Parteispitze hält, kommt bei den rotationsbewegten Grünen einem Wunder gleich. Er ist einer der bekanntesten Grünen, spielt schon sehr lange vorne mit. 1994 war der „anatolische Schwabe“ aus Bad Urach, der erste türkisch-stämmige Abgeordnete im Bundestag; 2008 wurde er der erste türkisch-stämmige Parteichef; bei jeder dieser Etappen überschlugen sich türkische Medien fast über diesen Erfolg eines „Einwandererkindes“ - das nie eingewandert ist, sondern in einem schwäbischen Kreissaal geboren wurde und mit 18 die deutsche Staatsbürgerschaft erlangte. Heute bekommt Özdemir Morddrohungen, weil er Ankaras Staatspräsidenten Rejeb Tajib Erdogan als Autokraten kritisiert und die Resolution über den Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg maßgeblich vorangetrieben hat.

 

Heute kann Özdemir seine bekannte Biografie eines Migrantenkindes, das es in der deutschen Politik nach oben geschafft hat, wie neu erzählen. Nicht weil es Neues zu erzählen gäbe - mal abgesehen davon, dass er als Parteichef Führungvermögen gewonnen hat - sondern weil er angesichts des Flüchtlingzustroms und der riesigen Integrationsaufgabe, die die Bundesrepublik erst noch bewältigen muss, ein Hoffnungsträger eigener Art ist: Der baden-württembergische Realo, der im Berliner Problem-Kiez Kreuzberg lebt, ist der lebende Beweis, dass Integration gelingen kann. Dabei steht Özdemir keineswegs für Multikulti, sondern für das „Fördern und Fordern“ als Leitprinzip der Integrations- und Flüchtlingspolitik. Auch Cem Özdemir ist in Koalitionsfragen offen, strahlt aber die klarste Präferenz für Schwarz-Grün aus.