So kann man die Welt auch aus den Angeln heben: John Cages „Child of Tree“ ist im Nord in einer Co-Produktion von Stuttgarter Ballett und Junger Oper zu sehen.

Dort Stuttgart - die Kunst, hier das Leben. Oper-, Konzert- oder Museumsbesuche sind für gewöhnlich Auszeiten aus dem Alltagstrott, in den man mit dem Verlassen der Kunststätte dann auch wieder einzuschwenken pflegt.

 

Dem amerikanischen Komponisten, Maler und Autor John Cage hingegen, der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre, war das Leben selber immer schon bedeutungsvoll genug: die der westlichen Kultur zugrunde liegende Trennung zwischen hehrer Kunst und niederem Alltag hat Cage, der sich eingehend mit dem Zen-Buddhismus beschäftigte, nie eingeleuchtet. Cages bekanntestes Werk, die auskomponierte Pause „4’33“, bringt diese Haltung auf den Punkt: der Pianist sitzt während eines definierten Zeitraums still vor dem Klavier, das Publikum soll seine Aufmerksamkeit ganz auf die Umgebungsgeräusche richten. Wichtig, so Cage, ist das, was ist.

Um die Ecke gedacht

Nun wurde Cages Schaffen im Jubiläumsjahr bereits durch diverse Aufführungen gewürdigt. Derart einleuchtend, sinnlich und dabei zugleich höchst unterhaltsam wie bei dem Stück „Child of Tree“, das nun als Koproduktion der Jungen Oper und des Stuttgarter Balletts im Nord Premiere hatte, dürfte man aber kaum jemals einen Einblick in das Werk des Querdenkers bekommen haben. Das Stück, wenn man es so nennen will, basiert auf Cages „Variations III for one or any number of people performing any actions“ – der Titel impliziert schon das Prinzip größtmöglicher Freiheit, mit dem hier Bühnenaktionen bei jeder Aufführung wieder neu zusammengeführt werden. Die Dramaturgin und Leiterin der Jungen Oper, Barbara Tacchini, hat dazu Kompositionen Cages wie „Water Walk“ (für Badewanne, Radios, Perkussion und Ähnliches), „Child of Tree“ (für Kaktus und Pflanzeninstrumente) sowie einige originale Cage’sche Perkussionsstücke ausgesucht, dazu drei Tanzchoreografien von Katarzyna Kozielska und diverse Ton- und Videoeinspielungen. Zu guter Letzt wird auch noch gebacken: Patrick Hahn bereitet in seiner Kochecke unter anderem Vollkornkekse nach Cages Originalrezept zu, die er am Ende im Publikum verteilt. Das klingt alles recht lustig – und das ist es auch.

Entscheidend aber ist, dass hier für eine gute Stunde unsere vermeintlich wohlvertraute Welt auf höchst poetische Weise aus den Angeln gehoben wird. Ein Heidenspaß ist etwa zu verfolgen, wie ein Sänger (Karl-Friedrich Dürr) mit seinem Begleiter eine dadaeske Liedpersiflage präsentiert, ein Spieler mit Hilfe von Badewasser, Schnellkochtopf und Radios eine kleine Sinfonie aus Geräuschen produzieren oder auf Kakteen und anderen Topfgewächsen Musik machen kann. Wenn letztere Aktion etwas an musikalische Früherziehung erinnern, so stehen auf der anderen Seite Darbietungen äußerster künstlerischer Verfeinerung: etwa die von Miriam Kacerova, Julie Marquet, Constantine Allen und Rocio Aleman hinreißend getanzten Choreografien, oder die rhythmisch komplexen Schlagzeugstücke, die Christoph Wiedmann, Thomas Höfs, Philippe Ohl und Jürgen Spitschka auf den Punkt genau spielen. Dass Komplexes und Simples Teil unserer Welt sind, in der alles seine Berechtigung hat – auch das war Cage wichtig zu zeigen.

Wann und in welchen Konstellationen die Bühnenaktionen passieren, wird vom musikalischen Leiter Stefan Schreiber für jede Aufführung von „Child of Tree“ mit Hilfe von 42 auf Folie aufgemalten Kreisen neu ausgewürfelt. Eine zeitraubende Angelegenheit, doch Cage liebte das Zufallsprinzip: in der Absichtslosigkeit, mit der das Individuum sich in das Kontinuum des Daseins ergibt, sah er eine Befreiung des Ichs.

Der Zufall ist ein guter Regent

Sinnfällig wird das auch in den auf zwei Monitore projizierten Naturaufnahmen des Videokünstlers Robert Seidel. Kontemplative Bilder von Bäumen, Blüten und Schwänen wechseln sich ab mit Aufnahmen städtischer Überwachungskameras von Bahnhöfen und Verkehrskreuzungen.

Gerade bei deren Betrachten stellt man fest, wie die Aufführung das eigene Denken und Fühlen schon zu verändern begonnen hat: würde man Bildern ein- und ausfahrender Autos und vor Ampeln wartenden Fußgängern sonst kaum Aufmerksamkeit schenken, so erscheinen sie im Kontext des Abend wie ein Sinnbild jener zufälligen Ereignisse, die irgendwie unser Leben ausmachen. Ob das Zen ist?