Nicht einmal die engste Führungsriege hat den überraschenden Rückzug Sigmar Gabriels kommen sehen. Der Vizekanzler hinterlässt die Partei in einer schwierigen Situation.

Berlin - Was muss in Sigmar Gabriel in den vergangenen Tagen vorgegangen sein? In diesem Mann, der angeblich seine Partei so sehr liebt und sie jetzt in einer Art und Weise vorführt, als wolle er sich grausam rächen. Das fragen sich viele in der Partei – vor allem jene, die ihn in der engeren Führung bis zuletzt gestützt haben, ohne von ihm überzeugt zu sein. Was hat ihn dazu getrieben, ihnen jetzt so in den Rücken zu fallen? Dem „Stern“ und der „Zeit“ Interviews zu geben und darin seinen Rücktritt zu verkünden, so wie es aussieht, noch bevor die allermeisten seiner Mitstreiter etwas davon erfahren hatten? Die Partei hat das getroffen wie ein Blitzschlag. Ähnlich hart und unvorbereitet wie damals, im Jahr 2008, als der SPD plötzlich ein vom innerparteilichen Widerstand völlig entnervter Parteichef Kurt Beck abhandenkam und Frank-Walter Steinmeier überstürzt die Kanzlerkandidatur antreten musste. So etwas, so hieß es, müsse diesmal unter allen Umständen vermieden werden. Nun ist es wieder passiert. Nur noch schlimmer.

 

Nicht einmal die engste Führungsriege hat das, glaubt man den ersten schockierten Reaktionen auf die Meldung, kommen sehen – von Hamburgs Olaf Scholz und NRW-Chefin Hannelore Kraft einmal abgesehen. Und natürlich Martin Schulz. Am vergangenen Samstag, sagt Schulz, habe Gabriel ihn in seine Pläne eingeweiht. Alle anderen – selbst Gabriels Kritiker – stellten sich im Kreis der Führung auf Gabriels Kandidatur ein. Entschlossen, ihm zu folgen. Sicher, Gabriel hatte immer gesagt, es sei noch nichts entschieden und erst am Sonntag sei auf einer Vorstandsklausur der SPD der Moment der Wahrheit. Aber das hielten die meisten für Unfug. Ein Rückzug galt als ausgeschlossen. Auch weil Gabriel sonst, wie einer aus dem Führungszirkel noch wenige Minuten vor dem Bekanntwerden des Rückzugs sagte, in dieser so stolzen Partei zur „Witzfigur“ verkommen würde. Minuten später war er, jedenfalls nach dieser Lesart, tatsächlich zu einer solchen Witzfigur zusammengeschrumpft. Jener Mann, dem man so oft seine Sprunghaftigkeit vorhielt, springt ab.

Mit einer derart dramatischen Wendung hatte niemand gerechnet

Zugleich meldete er neue Ansprüche an. Er wird jetzt Außenminister, Brigitte Zypries folgt ihm als Wirtschaftsministerin. Und Martin Schulz, sein Kumpel, übernimmt die Kanzlerkandidatur und den Parteivorsitz. Eigentlich habe er ja Frank-Walter Steinmeier als die beste Wahl für die Kandidatur im Blick gehabt, noch bevor dieser dann sein Kandidat für das Bundespräsidentenamt wurde. Aber Steinmeier habe ja nicht gewollt. Das alles sagte Gabriel in der Fraktion, unmittelbar nachdem die ersten Eilmeldungen das politische Berlin erschüttert hatten. Wenn er selbst anträte, würde er scheitern und mit ihm die SPD, so seine Begründung. Schulz habe nun mal die eindeutig besseren Wahlchancen.

Auch in der Fraktion, wo Gabriel am Nachmittag auftrat, hatten sie mit einer derart dramatischen Wendung nicht gerechnet. Von einer Stimmung geprägt von großem Respekt sprach der innenpolitische Sprecher Burkhard Lischka später. So kann man einen Schockzustand auch beschreiben. Sicher, viele hatten gelästert, über Gabriel geschimpft, sich einen anderen gewünscht. Die Partei, jedenfalls die Funktionäre und Abgeordneten, wirkten zuletzt ermattet. In der Bundestagsfraktion war Resignation, bei manchen Zynismus, bei einigen auch blanke Panik zu spüren. Böse Zungen behaupten, Sozis könnten nicht mit Zahlen umgehen, aber Umfragen lesen können sie in der Fraktion alle. Jeder Vierte bangt angesichts der aktuellen Zahlen um seinen Job. Die Ergebnisse einiger Befragungen sollen so verheerend sein, dass sie angeblich vom Willy-Brandt-Haus unter Verschluss gehalten werden. Viele Abgeordnete berichten von E-Mails aus ihren Wahlkreisen, dass jene, die am Ende an der Basis den Karren ziehen müssen, sich für einen Martin Schulz ins Zeug legen würden. Für Gabriel nicht.

Die SPD hatte es sich bequem gemacht: Schuldig war ja immer Gabriel

Aber als es dann so weit ist, als Gabriel ihnen, wenn man so will, Folge leistet und seinen Rückzug ankündigt, da sind dann plötzlich doch alle ganz irritiert. Man hatte es sich ja auch bequem gemacht, weil ein Schuldiger an allem, woran die SPD leidet, stets schnell zu finden war. Am Ende war es immer Gabriel. Darauf, so scheint es, hatte Gabriel keine Lust mehr. Er hatte immer wieder kokettiert, dass er das alles nicht nötig habe, all die Beschimpfungen, die Kritik, meist verdeckt, selten offen. In Goslar, da warte seine Frau Anke, sein Töchterchen Marie. Im Frühjahr erwartet das Paar ein zweites Kind. Er könne sich auch gut vorstellen, sich ganz oder zumindest teilweise zu privatisieren. So sagte er das immer wieder. Geglaubt hat ihm das keiner. Ein politischer Überzeugungstäter, wie er einer ist, zieht doch nicht zurück. Pustekuchen.

Was Gabriel nachhängen wird, bleibt die Art und Weise seines Abgangs. Schon seit November, so ist zu hören, sei ihm klar gewesen, dass er nicht antreten werde. Weshalb also, so fragen sich jetzt viele, diese „Ego-Show“, diese vielen Auftritte, der Zuschnitt des Willy-Brandt-Hauses ganz auf seine Person, die programmatischen Interviews, zuletzt zur Europapolitik, in denen Gabriel seiner Partei Richtungsweisendes zu sagen schien – wie das ein Kanzlerkandidat halt so macht. So dachte man.

Gabriel ist sensibler, als er nach außen hin wirkt

Gabriel, so nahmen sie es in der Partei wahr, schien seit dem Jahreswechsel, nach einer überstandenen Operation, eifrig zu üben. Am Wochenende ließ er sich bei einer Demonstration gegen die AfD in Koblenz blicken, er warf sich mit Leidenschaft im Saarland in den Wahlkampf. Er brachte seinen Auftritt auf Facebook und Twitter auf Vordermann. Neulich hielt er in der Fraktion, entgegen seiner Gewohnheit, keine freie, sondern eine vorgefasste Rede an die Abgeordneten, die wie eine Art Blaupause wirkte und in der er die Bundestagswahl zur historischen Richtungsentscheidung erklärte – weil es da um mehr als nur um ein paar Prozente mehr oder weniger gehe, sondern um die Zukunft unserer politischen Ordnung, letztendlich sogar um die Stabilität ganz Europas. Es schien alles für ihn angerichtet.

Um Gabriel zu deuten, muss man zurückblicken. Er ist sensibler, als es nach außen hin wirkt. Die Niederlage bei der Landtagswahl 2003 in Niedersachsen, in die er als damals jüngster Ministerpräsident und Hoffnungsträger gestartet war, warf ihn aus der Bahn. Mit professioneller therapeutischer Hilfe arbeitete er sich aus einer tiefen Lebenskrise zurück ins Feld der politischen Schwergewichte: als Umweltminister, seit mehr als sieben Jahren als Vorsitzender seiner Partei. Darauf war er stolz. Die SPD, sie war für den vom Nazivater früh verstoßenen und von einer oft verzweifelten Krankenschwester allein großgezogenen Gabriel über viele Jahre auch Familienersatz. In der Neuauflage der großen Koalition schaffte er dann den Aufstieg zum Vizekanzler.

Das Image als unsteter Geselle wurde er einfach nicht los

Dennoch plagten ihn stets Zweifel. Die Niederlage gegen Christian Wulff hat er nie vergessen. Und Angela Merkel schien für ihn bis zuletzt außer Reichweite. Obwohl er doch bei der Übernahme von Kaiser’s Tengelmann hoch gepokert und am Ende gewonnen hatte. Obwohl er mit einem verwegenen Manöver der Kanzlerin Frank-Walter Steinmeier als gemeinsamen Kandidaten für die Nachfolge von Joachim Gauck aufs Auge gedrückt hatte. Und obwohl Merkel in ihrer eigenen Partei erstmals in ihrer Amtszeit angeschlagen ins Rennen geht.

Die SPD verharrte trotz alledem bei erbärmlichen 20 Prozent. Eine Machtperspektive jenseits der Union ist nicht in Sicht, weder in einer Ampel mit Grünen und FDP noch in einem Bündnis mit Grünen und Linken. Gabriels Beliebtheitswerte blieben unterirdisch. Er wurde sein Image als unsteter Geselle einfach nicht los.

Gabriel hinterlässt in der Partei Trümmer

Was aber wird nun aus Gabriel? Er mochte zwar seinen Wunsch angeben, in welcher Funktion er Martin Schulz gerne sehen würde. Aber in der Hand hatte er das nicht mehr. Er musste sich erst die Unterstützung von Kraft und Scholz sichern. Schnell war aus der Fraktion zu hören, dass Gabriel jetzt nichts mehr zu melden habe. Schon gar nicht nach dieser Flucht aus der Verantwortung, mit der er nicht nur seinen Ruf gefährdet, sondern auch den Anspruch seiner Partei untergräbt, in weltpolitisch schwierigen Lagen ein verlässlicher Anker der Regierung zu sein. Weshalb sollte man, so sagen manche, jetzt ausgerechnet ihm das Auswärtige Amt übertragen? Dennoch akzeptierten Kraft und Scholz Gabriels Personalpaket – wohl auch, um einen offenen Machtkampf zu vermeiden.

Am frühen Abend machte das Präsidium der Partei Nägel mit Köpfen. Man habe sich einstimmig auf Martin Schulz als Kanzlerkandidaten festgelegt, sagten Schulz und Gabriel und taten dabei so gelassen, als sei nichts weiter passiert. Am Mittwoch soll Schulz der Fraktion vorgestellt werden. Anfang März soll er als neuer Parteichef gewählt werden. Dann wird man sehen, ob es dem Neuen gelingt, die Trümmer beiseitezukehren, die Sigmar Gabriel hinterlässt