Paul Blank lebte in einem oberschwäbischen Dorf. Er wurde 82 und sollte von Amts wegen in einem namenlosen Grab bestattet werden. Nachruf auf einen Außenseiter.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Dies ist seine Mütze. Das ist sein abgewetzter Lederstuhl. Das Sitzkissen, an dem schon ewig der Schaumstoff rausguckt. Darauf sein altes Akkordeon, ein Öllerer Herlikon mit Edelweißdekor. Seine blaue Arbeitsjacke, die er immer beim Holzmachen anhatte. Daneben steht die patinierte Bio-Urne aus gestanztem Maismehl, in der jetzt seine Asche liegt. Ein Kranz aus weißen Rosen mit weißer Schleife: „In lieber Erinnerung an Paul. Deine Freunde.“

 

Dunkle Großwolken türmen sich über dem Friedhof von Warthausen, einer oberschwäbischen Kleinstadt. An diesem Nachmittag wird Paul Blank – für alle nur „der Paule“ – beerdigt. Er wurde 82. Paul war ein Eigenbrötler, Sonderling, eine Randfigur. Man kannte ihn vom Sehen, geredet hat er wenig. Man kannte ihn, weil er irgendwie schon immer da war, auch wenn er in letzter Zeit nicht mehr auftauchte.

Normalerweise wären vielleicht zwei Handvoll Trauergäste gekommen: ein paar, die zu jeder Beerdigung gehen, ein paar, die ihm nahestanden – wenn man das bei Paule so sagen kann. Doch jetzt drängen sich die Menschen in der Aussegnungshalle, als wäre ein Warthausener Ehrenbürger gestorben. Das hat damit zu tun, dass Paule ursprünglich im benachbarten Biberach beigesetzt werden sollte, wo man eine „ordnungsrechtliche Bestattung“ erlassen hatte – in einem Grab ohne Namen. Das beschäftigte die Leute: Darf man einem Toten einfach den Namen nehmen? Gehört sich das? Es gelang, Paul nach Hause zu holen, wo man ihm nun die letzte Ehre erweist.

Ein Keyboarder spielt „Sag zum Abschied leise Servus“. Pfarrer Reutlinger sagt, er freue sich, dass Paul Blank die anonyme Bestattung erspart geblieben sei und dass sich an diesem Tag eine so große Gemeinschaft zusammengefunden habe, auch um menschliche Solidarität zu zeigen. Er erinnert an die Worte im Buch Jesaja: „Siehe, ich habe deinen Namen in meine Hand geschrieben, ich habe dich immer vor Augen. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen. Und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen.“

„Der Mensch ist keine Nummer, sein Name ist kostbar“

„Der Mensch ist keine Nummer“, sagt der Pfarrer, „sein Name ist kostbar.“ Dann wird Paul Blank zu Grabe getragen, die Urne in die Erde gelassen. Bis die Steintafel mit seinem Namen fertig ist, steht da ein Holzkreuz.

„A schene Beerdigung war’s“, sagt Rosa. Sie kannte Paul von früher, Ende der 50er Jahre muss das gewesen sein, sie war damals Bedienung in der Biberacher Bahnhofswirtschaft, er saß immer hinten mit seiner Halben. Sie hat ihn schon lang nicht mehr gesehen.

Karl hat die Beerdigung auch berührt. Er ist mit Paul in die Schule gegangen, erinnert sich noch, wie bei Fliegeralarm die ganze Klasse zum Käsekeller beim alten Friedhof hochmuste und dass Paul schon als Bub schlechte Augen hatte, eine starke Brille trug. Er war früh ein Außenseiter, der Schwächste in der Klasse, Zielscheibe von Hänseleien. „Kenndr kennad grausam sai“, sagt Karl. Paul kam aus der Barackensiedlung Röhrenöschle, die schlechteste Adresse in der Stadt. Später hat er bei Lindenmaier geschafft, Karl auch. Eine Zeit lang sind sie mit dem Bus zusammen ins Geschäft gefahren. Karl hat ihn mal gefragt, was sein Bruder Siegfried macht, Paul wusste es auch nicht. Irgendwann stand er nicht mehr an der Haltestelle. Man verlor sich aus den Augen.

„Wenn man ihm gesagt hätte, dass er mal so eine große Trauerfeier kriegt, hätte er wahrscheinlich nur abgewunken, aber insgeheim hätte er sich doch gefreut“, sagt Hermann. Hermann ist 48 und hatte es auch nicht immer leicht im Leben. Er wohnt in Galmutshöfen, einem Dorf mit 50 Einwohnern, wo jeder über jeden Bescheid weiß, wo man sich noch eine Sau für den Eigengebrauch hält und seit Urzeiten um zwölf die Mittagsglocke in der Dorfkapelle geläutet wird. Hier war auch Paul daheim.

Wer war er?

Wer war er? Wer kannte ihn? Hermann stand ihm vielleicht am nächsten. Vor vierzig Jahren zog Paul bei seiner Mutter Wilma ein und wurde so was wie sein Stiefvater. Nicht in der Art, wie sich heute viele Väter ins Zeug legen mit Baumhaus bauen oder gemeinsamen Kanu-Touren. „Aber ich bin immer gut mit ihm ausgekommen, da kann man nichts sagen“, sagt Hermann. Wenn Paul mal erzählt hat, dann vom Krieg. Von seinem Vater, den die Franzosen auf dem Rückzug erschossen haben. Die Mutter starb auch früh, so wuchs er mit seinen sieben oder acht Geschwistern bei der Großmutter auf.

Nach der Hauptschule schaffte er als Rossknecht bei einem Bauer drüben in Reinstetten. Später als Hilfsarbeiter beim Lindenmaier. Dann wurde er arbeitslos, da war er so Mitte 50. „Und von da an hat er nicht mehr so richtig gewusst, was er mit dem Tag anfangen soll. Kauzig war er schon immer, aber da wurde er so richtig kauzig“, sagt Hermann. Wilma warf ihn schließlich raus, es ging einfach nicht mehr. Er zog ein Haus weiter in eine Stube mit Schlafkammer, die nach einem Todesfall frei geworden war. Hier lebte Paul dreißig Jahre, hier wäre er am liebsten gestorben.

Er starb im Biberacher Krankenhaus. Das städtische Ordnungsamt versuchte, Angehörige zu ermitteln, fand aber keine. Und aufgeschrieben, wie er bestattet werden will, hatte Paul natürlich nicht. So wurde die billigste Beisetzung angeordnet. In Biberach ist das eine Einäscherung und Bestattung auf dem anonymen Gräberfeld. „Paule hätte nie gewollt, dass man ihm nach dem Tod den Namen nimmt, ihn praktisch ausradiert. In Biberach hätte er auch nicht liegen wollen, er gehört nach Warthausen“, sagt Andi, sein Nachbar und Freund. Andi ist 47 und hat schon einige Kämpfe durchgestanden im Leben. Nun kämpfte er für Paule.

In Warthausen ist die billigste Bestattung 500 Euro teurer

Er erreichte, dass Biberach die Urne für Warthausen freigab. Dort aber kostet die billigste Bestattung – im Rasengrab mit Steinplatte – 500 Euro mehr als in Biberach. Andi startete einen Spendenaufruf auf Facebook, ging mit der Sammelbüchse durchs Dorf. Er schaffte es. Es kam sogar so viel Geld zusammen, dass es noch für Blumen, den Musiker und die Todesanzeige reichte. Und er schaffte es, dass die Leute darüber nachdachten, was das Wort Würde heißt – im Fall von Paul, den alle vom Sehen kannten. Und: „Wer von uns bleibt nicht immer ein Fremder, allein?“, wie es der Dichter Thomas Wolfe sagte.

Seine Katzen waren Paul wichtig. Fünf, sechs schauten täglich bei ihm rein. Er machte immer einen Rollladen so weit hoch, dass sie auf den Fenstersims springen und gerade so in die Stube schlupfen konnten. Ein paar nette Worte und was zum Fressen hatte er immer für sie. Das Futter kaufte er beim Bäcker, der ein Mal in der Woche im Dorf hält. Außerdem standen auf seiner Einkaufsliste: Tawa-Tabak, Brot, süße Stückle. Ein Metzger, den er kannte, brachte ihm ab und zu Presssack und Bratwurstbrät in der Dose vorbei.

Sein Ofen war ihm wichtig. Er heizte auch, wenn es draußen 30 Grad hatte. Auf dem Ofenrohr hängt noch eine ausgewaschene Plastikvespertüte zum Trocknen – viel zu schade zum Wegschmeißen. In einer Ecke verbirgt sich hinter Spinnweben ein Christus am Kreuz. Ein mickriger Tännling mit roten Kugeln geschmückt, ist noch von Weihnachten übrig. Zwei Gartenzwerge thronen auf dem alten Neckermann-Radio. Die Quartz-Küchenuhr läuft auf die Minute genau, der Wandkalender vom Bäcker zeigt noch den Mai an. Auf dem Nussbaumbuffet: sein Kamm, sein Schuhlöffel, sein Insektenspray, seine Zweitbrille – schwer wie ein Hufeisen, die Gläser so dick wie Eiswürfel.

Die Musik war ihm wichtig. Er hatte eine umfangreiche Kassettensammlung, auf einer der vielen Hüllen steht „Jodlergruppe Winterstein“. Den lieben langen Tag beschallte er die Dorfstraße mit SWR4. Und abends guckte er Fernsehen, am liebsten Fußball, egal was, auch Frauenfußball. Sein Verein war Gladbach.

Seine Ordnung war ihm wichtig

Seine Ordnung war ihm wichtig. Dass alles so bleibt wie seit jeher. Um elf stand er auf, zog den einen Rollladen ganz, den anderen nur ein bisschen hoch, er mochte es nicht so hell. Dann machte er das Radio an und stopfte sich eine Zigarette. Bier trank er keins, nur Schnaps und Spezi – stets aus dem Steinkrug, auf den er einen Pappstreifen legte, den er von einer Schmelzkäseverpackung abgetrennt hatte. Vor jedem Schluck nahm er den Deckel ab, danach kam er sofort wieder drauf, damit sich keine Fliege ins Spezi stürzt. Eine dünne Dämmfolie hatte er als Schonbezug über die Eckbank gezogen, obwohl sie in dreißig Jahren nie ein Mensch benutzte. Paule saß immer auf seinem schwarzen Lederstuhl mit Blick aus dem Fenster. Wenn Andi am Haus vorbeiging, hat er immer reingespickt: „Paule?“ Dann hat Paul auf seine typische Art so hochgeschaut: „Ja?“

Als Andi erfuhr, dass Paul ein Akkordeon besaß, fragte er, ob sie mal musizieren wollen. Paul sagte natürlich „awa“. Aber am nächsten Tag hörte man ihn schon üben. Bald traf man sich bei Andi zum ersten Stubenmusikabend. Paul spielte seine Walzer, Polkas und Seemannslieder, summte immer leise mit, Andi blies die Tuba. „Aber Paule gab den Ton an.“

Bis vor zwei Jahren hat er noch selber Holz gemacht, schaffte es auch jedes Jahr rechtzeitig, sei Sach für den Winter fertig zu bekommen. Helfen ließ er sich dabei nicht. Im letzten halben Jahr wurde er immer gebrechlicher, im letzten Monat baute er stark ab. Hermann kümmerte sich um ihn, brachte Kuchen und Mittagessen vorbei. „Soll i dir a Gulasch macha, Paule?“, fragte er manchmal. „Haja, des machsch.“ Dann hat er doch nichts gegessen.

Zum Doktor wollte er nicht. Irgendwann holten sie einfach einen in die Stube. Es ging überraschend gut am Anfang. Aber als es dann hieß, es wäre ratsam, für ein paar Tage ins Krankenhaus zu gehen, war Schluss. Von da an ließ Paul sich auch kein Blut mehr nehmen.

Er fehlt

Dann fand ihn Hermann eines Tages in der Stube auf dem Boden liegen. Er war zu schwach, um selber aufzustehen. Paul kam ins Biberacher Krankenhaus und dachte bis zum Ende, dass er nur vorübergehend da ist.

Jetzt gibt es ihn nicht mehr. Die Katzen suchen nach ihm. Andi spickt immer noch durchs Fenster, wenn er am Haus vorbeigeht. Hermann glaubt manchmal, drüben SWR4 zu hören. Er fehlt. Seine frühere Freundin Wilma, Hermanns Mutter, ging ihm vier Wochen voraus. Sie war dement und lebte im Heim. Jetzt liegen sie nebeneinander auf dem Friedhof.

„Der Name Paul“, sagt der Pfarrer in seiner Predigt, „kommt vom Apostel Paulus, was so viel wie der Kleine heißt. Ein Kleiner, aus dem ein Großer geworden ist. Jeder Mensch hat seine Botschaft. Paul will uns auch an die vielen Pauls erinnern, die sich zurückgezogen haben. Diese Zurückgezogenheit prägt einen Menschen. Wir sollten nie aufhören, auf solche Menschen zuzugehen. Paul ist nicht namenlos, er wird es auch nach seinem Leben nicht sein.“