Fast zwei Jahrzehnte lang prägte Hans-Dietrich Genscher die deutsche Außenpolitik und trug wesentlich zur Wiedervereinigung bei. Innenpolitisch galt er vor allem als Meister der politischen Taktik. Jetzt ist Hans Dietrich Genscher gestorben.

Als er im Frühjahr 1992 – für viele überraschend – sein Amt als Außenminister aufgab und Journalisten ihn nach den Gründen fragten, antwortete er: „Es ist mir lieber, Sie fragen mich, warum ich jetzt schon gehe, als dass Sie mich eines Tages fragen, wann ich denn endlich gehen werde.“ Wie es seine Art war, verschleierte er die wahren Gründe seines Rücktritts. Tatsächlich spürte er, gerade erst von einem Herzinfarkt genesen, dass seine Belastbarkeit nachließ.

 

Vor allem aber: die zuvor in Ost und West geteilte Welt wurde nach dem Zerfall des Ostblocks zusehends unübersichtlich, Hans-Dietrich Genscher kam damit nur schwer zurecht. Im Jugoslawien-Konflikt setzte er zunächst auf das falsche Pferd, nämlich den auseinander brechenden Tito-Staat. Als er dann für eine völkerrechtliche Anerkennung Kroatiens und Sloweniens votierte, erntete er zumal in den westlichen Hauptstädten harsche Kritik.

Nein, die nun anbrechende Epoche war nicht mehr Genschers Welt, obwohl er doch zu deren Entstehen maßgeblich beigetragen hatte. Lange vor Helmut Kohl hatte er begriffen, dass sich nach dem Amtsantritt Michail Gorbatschows im Kreml neue Möglichkeiten für Europa und das geteilte Deutschland abzeichneten. Genscher riet dazu, den Sowjetreformer „beim Wort zu nehmen“. Seine Auffassung, dass Europa ohne die Sowjetunion nicht zu bauen sei, trug ihm in London und Washington den Vorwurf ein, deutsche Sonderwege zu beschreiten. Noch im Juni 1989, wenige Monate vor dem Fall der Mauer, hieß es in der britischen Presse, Genscher könne bereit sein, „die Verbindungen zu Großbritannien zu den Vereinigten Staaten abzubrechen, um Oberbürgermeister in Halle zu werden“. Er konnte sich jedoch gerechtfertigt fühlen, als im Herbst 1989 mit der Wende in der DDR das kommunistische Regime in Osteuropa zu zerbrechen begann und plötzlich die Wiedervereinigung Deutschlands zu einer realen Chance wurde. Das ging nur mit Gorbatschow.

Genschers diplomatischer Leistung war 1990 der erfolgreiche Abschluss der 2 + 4 - Verhandlungen zu verdanken, der einem Friedensvertrag mit den Deutschen gleichkam. Als er im September 1989 vom Balkon der Deutschen Botschaft in Prag fünftausend DDR-Flüchtlingen verkünden konnte, ihre Ausreise in den Westen sei gesichert, wollte der Jubel kein Ende nehmen und der Wärmestrom der Geschichte wurde einem Politiker zuteil, der oft genug als bloß substanzloser Obertaktierer angesehen worden war. Nicht von ungefähr steht dieses Ereignis, das ihn tief beeindruckt hatte, am Anfang seiner „Erinnerungen“. Prag, so schrieb er, sei der Höhepunkt in seinem Politikerleben gewesen. Rudolf Augstein resümierte im „Spiegel“: „Genscher spielte bei der Wiedervereinigung eine mindestens so große Rolle wie Kohl.“ Doch genau dieser Umstand entfremdete die beiden Politiker, die schon seit den sechziger Jahren enge Beziehungen unterhalten hatten.

Der Kanzler, der auf Genschers Prager Auftritt eifersüchtig war, manövrierte ihn im weiteren Prozess der Wiedervereinigung aus. Die Linie wurde im Kanzleramt entworfen und durchgesetzt. Diese Zurücksetzung mag auch zu Genschers Rücktritt beigetragen haben. Kohl bat ihn nicht, im Amt zu bleiben. Auch fragte er den mit Abstand beliebtesten deutschen Politiker nicht, ob er Bundespräsident werden wolle. Genscher selbst hat sich dazu nie geäußert, aber manche wollen wissen, dass er auf einen Ruf Kohl gewartet habe.

Es wäre die Krönung einer Laufbahn gewesen, die in seiner Heimatstadt Halle begonnen hatte. Dort war der Jurastudent nach seiner Rückkehr aus dem Kriegsdienst der ostzonalen „Liberal-Demokratischen Partei“ (LDPD) beigetreten. Für sein Referendariat musste er sich der späteren DDR-Justizministerin Hilde Benjamin vorstellen, die ihn misstrauisch fragte, was er denn so lese. Genscher, der wegen einer Tuberkulose sein Studium mehrfach hatte unterbrechen müssen und Zeit zum Lesen gehabt hatte, antwortete: „Ja, auch Marx und Lenin.“ Die Personalchefin examinierte ihn und war beeindruckt: „Warum sind Sie nicht in der SED, wenn Sie so viel über Marx und Lenin wissen?“ Darauf Genscher: „Eben. Weil ich so viel über sie weiß.“

Der „Genscherismus“ sicherte der FDP die Macht

Bald darauf übersiedelte Genscher in den Westen, wurde Rechtsanwalt in Bremen und trat der FDP bei. Thomas Dehler holte ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter in die Bundestagsfraktion, in der er 1965, nach seiner Wahl in den Bundestag, zum parlamentarischen Geschäftsführer aufstieg. Genscher verstand es, sich in Bonn unentbehrlich zu machen und zog auch in der Partei kräftig die Fäden. Am Wechsel vom rechtsliberalen Erich Mende zum eher linksliberalen Walter Scheel im Bundesvorsitz wirkte er maßgeblich mit, ohne damit klar seine eigene Position zu bestimmen. Genscher war unideologisch, pragmatisch, machtorientiert. Er war nicht auf das bürgerliche Bündnis mit der Union fixiert, war aber auch nicht sozial-liberal. Er war offen für das, was der FDP größtmöglichen Einfluss sicherte. Die Liberalen nach allen Seiten offen zu halten und am Ende jener Partei den Zuschlag zu geben, bei der ein Optimum an Regierungsmacht herauszuholen war – darin sah er die Substanz seiner Politik.

Kritiker bezeichneten die Flexibilität als „Genscherismus“, der je nach Option die bürgerlichen oder linksliberalen Wähler irritierte und die Partei in Schwierigkeiten brachte. Schon in den Jahren der Großen Koalition, als die FDP in der Opposition war und während der sozial-liberalen Koalition unter Brand pflegte Genscher seine Kontakte zu Helmut Kohl, den er als kommenden Mann der CDU sah. Auch als Bundesvorsitzender seit 1974 wollte er immer zwei Eisen im Feuer haben, wollte „Zünglein an der Waage“ bleiben.

Die Spiele 1972 wurden seine „dunkelste Stunde“

In der Regierung Brandt/Scheel wurde er Innenminister. Er kümmerte sich alsbald um den Ausbau des Bundeskriminalamtes und berief den computerbegeisterten Modernisierer Horst Herold an dessen Spitze. In dieser Zeit erlebte er, wie er später sagte, „die schwerste Stunde meines politischen Lebens“. Es ging um den Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 1972 in München. Genscher hätte darauf drängen müssen, die Angelegenheit den erfahrenen israelischen Sicherheitskräften zu überlassen. So aber verursachte die deutsche Polizei ein Desaster. Auch beim Rücktritt Willy Brandts 1974 spielte Genscher eine fragwürdige Rolle. Trotz eindeutiger Hinweise hatte er sich zu sorglos gegenüber dem im Kanzleramt tätigen DDR-Spion Guillaume verhalten. Doch ein Rücktritt war aus politischen Gründen ausgeschlossen, weil Walter Scheel schon sicherer Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten war und Genscher für den Zusammenhalt der Koalition benötigt wurde.

Der Wechsel von Brandt zu Helmut Schmidt führte ihn in das Amt des Außenministers und damit in die Rolle seines Lebens. Gewiss hätte er als Innenminister die „Eigenständigkeit“ der FDP deutlicher markieren können, denn inzwischen war er deren Bundesvorsitzender, aber auch vom Außenamt her bemühte er sich um die mediale Präsenz seiner Partei. Wer mit dem Wahlkämpfer Genscher unterwegs war, konnte erleben, dass er stündlich die Nachrichten abhörte oder in ein kleines mobiles Fernsehgerät japanischer Bauart blickte. Wenn er mit seinen sprichwörtlich gewordenen Minuten-Statements darin vorkam, war er zufrieden.

Nach Brandts Sturz setzte er dessen Politik fort

Rastlos war er in der Welt unterwegs, und in Bonn ging das Wort um, wenn sich über dem Atlantik zwei Flugzeuge begegneten, dann sitze in beiden Hans-Dietrich Genscher. Diese Unrast lässt sich auch aus seiner TB-Erkrankung erklären, die ihn drei Jahre seine Lebens gekostet hatte. Deshalb meinte er, die ihm verbliebene Zeit intensiv nutzen zu müssen. Er betrieb jedoch nicht nur Scheckbuch-Diplomatie, die ihm nachgesagt wurde. Er setzte Brandts Entspannungspolitik ungeachtet aller Kritik fort. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki, die 1975 zustande kam, kann als Meilenstein in Genschers Laufbahn bezeichnet werden. Die Welt des Kalten Krieges wurde ein Stück weit friedlicher und berechenbarer. Das Stichwort von damals lautete: Sicherheitspartnerschaft.

Weil es für Bundeskanzler Schmidt immer schwieriger wurde, die mit dem Koalitionspartner vereinbarte Finanz-, Wirtschafts- und auch Sicherheitspolitik durchzusetzen, leiteten Genscher und Graf Lambsdorff 1982 die „Wende“ ein, hin zu Helmut Kohl und der Union. Das war für die FDP wieder einmal ein riskantes Manöver, aber das neue Bündnis hielt bis 1998, und Genscher blieb für weitere zehn Jahre Außenminister. Im Mai 1992 trat er zurück in dem Bewusstsein, getan zu haben, was ein Mann wie er hatte tun können.

Ein großer liberaler Theoretiker war er nicht, dazu war er viel zu sehr an Taktik interessiert. Aber immer ging es ihm darum, humane Bedingungen herzustellen gemäß seinem Motto: „Wir müssen das Denken modernisieren, nicht die Waffensysteme“.

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