Bernd Hölzenbein ist mit 78 verstorben. Dass Deutschland 1974 Weltmeister wurde, lag auch am flinken Frankfurter: Er suchte im holländischen Strafraum das lange Bein von Wim Jansen – und fand es.

Es gibt Dinge, die man sein Leben lang nicht wegwirft. Man steckt sie am Abend des Tages, an dem sie einem wichtig geworden sind, in die Zigarrenkiste mit den unsterblichen Erinnerungsstücken – und kramt sie später in stillen Momenten wieder hervor.

 

Manchmal dauert es fünfzig Jahre.

Das verstaubte Souvenir, von dem der Schreiber dieser Zeilen hier aus traurigem Anlass heute erzählen muss, hat gelitten. Der Zahn der Zeit hat an ihm genagt, womöglich sogar eine verfressene Motte, jedenfalls ist es verknittert und kommt an den Ecken etwas abgerissen daher. „München, 15 Uhr, Block E 2, Stehplatz“, steht auf der Karte. Und das Datum.

7. Juli 1974.

Dieser Stehplatz in Block E 2 war, um es vorwegzunehmen, ein guter Platz. Er hat zum Beispiel davor bewahrt, die erste Szene des Endspiels um die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in ihrer vollen Tragweite zu erkennen. Denn ungefähr hundertdreißig Meter entfernt, vor dem anderen Tor, ist sie passiert. Die Holländer spielten sich den Ball nach dem Anstoß siebzehn Mal zu, von links nach rechts und vorwärts und rückwärts – und urplötzlich ging ihr Star Johan Cruyff steil, Uli Hoeneß ließ das Bein stehen, Elfmeter. 0:1 nach 56 Sekunden.

Die Holländer brachten ihn auf die Palme

„Danach“, sagte der Frankfurter Stürmer Bernd Hölzenbein hinterher, „wollten die Holländer uns verarschen.“ Sie begannen zu zaubern, sie packten bis an den Rand der Arroganz die Trickkiste aus, und vermutlich war das der wichtigste Grund dafür, dass Deutschland am Ende Weltmeister wurde. Die Holländer waren an jenem 7. Juli 1974 in München zwar die bessere Mannschaft, aber sie brachten Hölzenbein auf die Palme. Mitsamt seiner Wut stürmte der bei der erstbesten Gelegenheit in den holländischen Strafraum, suchte sich ein Bein zum Einfädeln, fand das von Wim Jansen – und platsch, da lag er. Elfmeter. 1:1.

Arie Haan war einer der Stars der Holländer. Mit Ajax Amsterdam hatte er in den frühen 70ern dreimal den Europacup der Landesmeister gewonnen, sie spielten „Voetbal total“. Später hat er den VfB ins Uefa-Cup-Finale trainiert und gelegentlich noch mal den historischen Elfmeter des WM-Endspiels von 1974 durchdiskutiert. Wenn man befand „Man kann ihn geben“, lachte Haan sich krumm: „Hör auf, jeder kannte Hölzenbein, diesen Tiefflieger.“

Schimpfwort Hölzenbein

Das ekligste holländische Schimpfwort nach dem WM-Endspiel 1974 war jedenfalls nicht Hurensohn, sondern Hölzenbein. Aber so oder so, Hauptsache, der Elfmeter von Paul Breitner war drin. Und am Ende waren die Deutschen Weltmeister. Für Hölzenbein war es die Krönung seines Fußballerlebens. In 420 Bundesliga-Spielen schoss er für Eintracht Frankfurt 160 Tore, den Uefa-Cup und dreimal den DFB-Pokal hat er gewonnen und es auf 40 Länderspiele gebracht. Aber sein Ausrufezeichen bleibt das WM-Finale 1974.

Vermutlich war es dieser flinke, Haken schlagende Hesse, der den Schriftsteller Salman Rushdie später zu den fulminanten Zeilen inspiriert hat: „Schwalben im Strafraum sind wie ein Taschenspielertrick, aber gute Schwalben sind große Kunst. Eine gute Schwalbe ist wie ein Lachs, der hochschnellt, sich dreht und ins Wasser zurückfällt. Eine gute Schwalbe ist wie das Sterben des Schwans.“ Die von Bernd Hölzenbein gegen die Holländer war derart perfekt, dass man sich fragen muss, ob es überhaupt eine Schwalbe war.

Held oder Schlawiner?

Held oder Schlawiner? Die Diskussion hat den Frankfurter sein ganzes Leben lang begleitet. Dass er das lange Bein von Wim Jansen im Strafraum dankbar annahm, war gut für die deutsche Mannschaft, aber schlecht für die weitere Lebensplanung von Hölzenbein. „Ich würde“, jammerte er einmal, „so gerne mal wieder nach Holland fahren . . .“ Einen Urlaub hat er dort dann sogar für eine Pressekonferenz genutzt, aber die Holländer haben ihm nie verziehen.

Umso tröstlicher war für Hölzenbein, was anlässlich eines Kameradschaftstreffens verdienter Nationalspieler einmal geschah. Als er kurz raus musste, stand plötzlich Olaf Thon am Pissoir neben ihm und sagte mitten hinein ins gemeinsame Pinkeln: „Du, Bernd, ich glaube, man kann ihn geben.“

Im Alter von 78 Jahren ist Hölzenbein nun nach schwerer Krankheit verstorben.