Der deutsche Militärarzt und Jude Nathan Wolf hat seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg in einem fesselnden Tagebuch notiert. Nach der Rückkehr in sein Heimatdorf Wangen trieben ihn die Nazis 1938 ins Exil.

Wangen - Am 19. August 1914 ereignet sich südlich der elsässischen Stadt Mühlhausen eine der vielen Schlachten, die keinen Eingang in die Geschichtsbücher über den Ersten Weltkrieg gefunden haben. Für den jüdischen Arzt Nathan Wolf jedoch wird sie einschneidend werden. Der damals 32-jährige Militärarzt stammte aus Wangen, einem Dorf mit vielen Landjuden auf der Halbinsel Höri zwischen Radolfzell und Stein am Rhein. Heute erinnert nur noch ein jüdischer Friedhof und das unmittelbar neben dem Rathaus gelegene Haus von Nathan Wolf an diese Geschichte.

 

Wie viele der 95 000 Juden, die damals die feldgraue Uniform trugen, dachte Wolf deutschnational, begrüßte den Krieg und mit ihm die Gelegenheit, seine Verbundenheit mit dem Vaterland zu zeigen. Rund 12 000 Juden sollten ihr Leben für Deutschland lassen. Vermutlich verband Wolf damit wie auch viele andere Juden die letztlich irrige Hoffnung, als vollwertiger Deutscher anerkannt zu werden.

Festgehalten hat der Mediziner seine Erinnerungen, Reflexionen und Selbstzeugnisse in einem dreibändigen Kriegstagebuch, von dem zwei Bände erhalten geblieben sind. Der zweite Band ist vermutlich im Schweizer Exil verloren gegangen, in das Wolf durch die Nationalsozialisten gedrängt worden war. Womöglich hat er die Bücher erst nach dem Krieg aus seinen Briefen heraus verfasst, wie die Literaturwissenschaftlerin Anne Overlack mutmaßt, die den sorgfältig edierten Band herausgegeben hat.

Unerschrocken angesichts der Todesgefahr

Aber hören wir einmal hinein: „20. August: ! Flachslanden Sirenz Eimeldingen !! Donnerstag; ich danke Gott, das aus der gestrigen mörderischen Schlacht unversehrt hervorgegangen bin. Da ich von meiner Truppe abgesprengt war und erst heute Mittag wieder zu ihr stieß, glaubte niemand, dass ich noch am Leben sei. Um 11 gestern Vormittag sprach der Feldgeistliche die wenigen Worte: tue jeder seine Pflicht! Dann ging es eine Anhöhe hinauf bis zu einer Waldhecke, oberhalb Niederbrunnstein

( . . .) ich war noch nicht recht im Wald, da sauste eine Kugel mit solcher Gewalt an meine Helmspitze, dass es mir den Helm herunterriss und ehe ich mich versah, kamen vier andre zischend an mir vorbei. Das hatte mich sehr erregt, ich lief wieder ein paar Schritte vorwärts, da stieß ich schon auf den ersten Verwundeten, einen Landwehrmann vom Olga-Regiment; Kopfschuss, das Gehirn bärkelte nur so heraus, ich verband ihn, musste ihn aber liegen lassen, weil kein Krankenträger da war.“

Die Unerschrockenheit angesichts der eigenen Todesgefahr verblüfft und erschreckt gleichermaßen. Den martialischen Ton kennt man von Ernst Jünger, dem großen Gewaltpornographen des Weltkrieges. Krieg als fundamentales Erweckungs- und Bildungserlebnis, das der männlichen Charakterbildung dient.

Deutschnational, kriegsbegeistert und hoch dekoriert

„Ich will als ganzer Mann und wahrhaft Deutscher zurückkehren, mit reinen Gewissen“, verkündet Wolf ebenso kühn wie naiv. Der Krieg führt ihn nach Frankreich, Belgien, den Balkan und bis in den Orient. Er sei das „Wichtigste und Größte“, das Wolf in seinem Leben erfahren konnte, schreibt die Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. „In den vier Kriegsjahren lebte er im Gleichschnitt mit der deutschen Geschichte, der sich mit seiner ganzen Existenz unterwarf.“

Die Fronttagebücher zeigen Wolf als draufgängerischen Haudegen, der für „minderwertige“ Franzosen ebenso wenig Mitgefühl zeigt wie für Zivilisten oder auch Frauen, der aber ohne Zögern französische Verwundete verbindet. Für seinen unerschrockenen Einsatz erhält Wolf das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse. Er wird noch mit weiteren Ehrenabzeichen ausgezeichnet und persönlich bedankt von dem von ihm hochverehrten Landesherrn, dem Großherzog Friedrich II. von Baden.

Das aber alles ist umsonst. 1918 kehrt er „lustlos“ an den Bodensee zurück, gründet eine Familie und lässt sich als Landarzt nieder. In der Reichspogromnacht 1938 ist er nur noch der Jude Nathan Wolf, der frühmorgens von der SS aus dem Bett geholt und verprügelt wird. Nun gelten die Verdienste ums Vaterland nichts mehr. Im Gegenteil: „Meine Kriegsorden, die in einem Kästchen lagen, hatten die Horde aufs Äußerte gereizt“, notiert er bitter.