Die Führung in Kiew wirft Russlands Armee vor, mit der Eroberung eines wichtigen Grenzorts und umliegender Dörfer in der Ostukraine eine „Invasion“ des Landes voranzutreiben.

Kiew - Die Führung in Kiew wirft Russlands Armee vor, mit der Eroberung eines wichtigen Grenzorts und umliegender Dörfer in der Ostukraine eine „Invasion“ des Landes voranzutreiben. Die Ortschaft Nowoasowsk und deren Umgebung befinde sich seit Mittwoch unter Kontrolle der russischen Streitkräfte, erklärte der Nationale Sicherheitsrat am Donnerstag. Die Nato sprach von „deutlich mehr als tausend“ Soldaten, die offenbar gezielte eine zweite Front eröffnet hätten.

 

Die Nachricht der mutmaßlichen Eroberung von Nowoasowsk mit seinen 11.000 Einwohnern folgt auf ukrainische Berichte vom Mittwoch, wonach eine russische Militärkolonne mit hundert Panzern und Raketenwerfern die Grenze überquert habe. Durch die Region am Asowschen Meer führt auch ein Landweg auf die im März von Russland annektierte Schwarzmeerhalbinsel Krim. Weiter nordöstlich in Donezk und Lugansk waren die Aufständischen zuletzt erheblich unter Druck geraten.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko beklagte in einer Erklärung, dass „russische Soldaten in die Ukraine geschickt wurden“. Wegen der „scharfen Zuspitzung“ der Lage habe er eine Türkei-Reise am Donnerstag abgesagt und den Nationalen Sicherheitsrat einberufen. Der UN-Sicherheitsrat setzte auf Antrag Litauens noch für denselben Abend (18.00 Uhr MESZ) eine Dringlichkeitssitzung an.

Merkel: EU wird über weitere Sanktionen beraten

Poroschenko wird am Samstag vor dem EU-Gipfel in Brüssel die Präsidenten der EU-Kommission und des Europäischen Rats zu Gesprächen treffen. Laut Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird dort auch das Thema weiterer Sanktionen auf der Tagesordnung stehen. Berichte über eine verstärkte russische Truppenpräsenz und den weiteren Vormarsch der Separatisten in bislang ruhige Gebiete würden die Frage aufwerfen: „Wie reagieren wir darauf?“

Für den ukrainischen EU-Botschafter Konstiantyn Jelisiejew steht die Antwort schon fest: Er verlangte wegen der „unverhohlenen russischen Invasion“ ein Ende der Brüsseler Politik der „Beschwichtigung“ gegenüber dem „Aggressor“ und Militärhilfe für Kiew. Auch die EU-Außenminister kommen am Freitag in Mailand zu zweitägigen Beratungen zusammen, bei denen es zuerst um den Ukraine-Konflikt gehen soll.

Nato-General Nico Tak sagte am Donnerstag im belgischen Mons, hunderte russische Soldaten „unterstützen die Separatisten, kämpfen mit ihnen, kämpfen unter ihnen“. Das Bündnis habe seit Mitte August „große Mengen fortgeschrittener Waffen beobachtet, darunter Luftabwehrsysteme, Artillerie, Panzer und gepanzerte Fahrzeuge“, die an die Rebellen geliefert worden seien. Satellitenbilder zeigten „zusätzliche Beweise, dass russische Kampftruppen, ausgerüstet mit hoch entwickelten schweren Waffen, innerhalb des souveränen Territoriums der Ukraine aktiv sind“.

20.000 besonders schlagkräftige russische Soldaten

Russlands Armee habe nicht nur 20.000 besonders schlagkräftige Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert, sondern versuche ganz offensichtlich, „eine Niederlage der Separatisten zu verhindern“, sagte Tak weiter. Die Truppen hätten „eine zweite Front für die ukrainischen Kräfte“ eröffnet. „Das ist ein sehr effektives Mittel, den Druck von den Separatisten zu nehmen.“ Auch die US-Regierung bezichtigte Moskau, allem Anschein nach eine Gegenoffensive der Aufständischen in der Ostukraine zu „lenken“.

Ein Sprecher des Außenministeriums in Moskau wies diesen Vorwurf laut russischen Nachrichtenagenturen als „realitätsfern“ zurück. Die von den USA kritisierten Truppeneinheiten hätten lediglich „taktische Trainingseinheiten auf ihren eigenen und abseits gelegenen Übungsplätzen“ absolviert. Auch der russische Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Andrej Kelin, beteuerte bei einer Dringlichkeitssitzung des Gremiums in Wien, dass es abgesehen von einer zehnköpfigen Truppeneinheit, die sich kürzlich „versehentlich“ in die Ukraine verirrt habe, „keine russischen Soldaten“ dort gebe.

Insgesamt wurden in dem Konflikt inzwischen mehr als 2200 Menschen getötet. Die Stadtverwaltung von Donezk meldete auch am Donnerstag wieder 15 zivile Todesopfer durch Artilleriebeschuss.

Die anhaltende Krise hat inzwischen auch den russischen Rubel auf ein Fünf-Monats-Tief geschickt. Die ukrainische Währung Hrywnja hat seit Jahresbeginn 40 Prozent an Wert verloren.