Unterwegs in Afrika und Lateinamerika – und das nicht für einen Urlaub, sondern zehn Monate lang: Johannes Nedo und seine Frau Dörte haben ihren Traum wahrgemacht. Jetzt zieht der StZ-Autor Bilanz: Was bleibt davon?

Stuttgart - Am Ende wurde es eng, ausgerechnet auf dem Rückflug. Als der Pilot über das Wetter in Berlin informierte, traf mich der Schlag. Ich begann zu realisieren: die zehn Monate unterwegs sind nun tatsächlich zu Ende. Zehn Monate lang bin ich mit meiner Frau durch Afrika und Südamerika gereist: von Kenia bis zum Kap der guten Hoffnung, von Patagonien bis zu den Galapagos-Inseln. 16 Länder auf zwei Kontinenten haben wir erkundet, mehr als 64 000 Kilometer zurückgelegt und damit anderthalb Mal die Erde umrundet.

 

Doch was bleibt davon? Für mich?

In diesem Moment gab es nur eins: ich versuchte, mir so viel wie möglich aus den vergangenen zehn Monaten ins Gedächtnis zu rufen. Ich schloss die Augen, und plötzlich tauchten all die Bilder, wunderschöne und traurige, wieder auf. Vom abgelegenen Sambesi-Nationalpark in Sambia, vom Abendessen hinter dem Haus unseres kenianischen Freundes Peter, von endlosen Busfahrten auf staubigen Pisten, von den Gorillas im Dschungel, vom Fußballspielen auf Sansibar, von den armseligen Behausungen der Ureinwohner in Paraguay, von den langen Nächten in São Paulo, von der Salzwüste in Bolivien. Ort für Ort, Begegnung für Begegnung rekapitulierte ich im Flugzeug unsere Reise.

Die Gewissheit, dass all das geblieben ist von dieser Reise, beruhigte mich. Vorerst. Denn gleich nach der ersten Erleichterung poppte die nächste Frage auf: Was mache ich nun damit? Und was haben die Erlebnisse unterwegs mit mir gemacht?

Die Reise war unser Lebenstraum. Jahrelang hatten wir uns ausgemalt, wie es sein würde, wenn wir uns aus unserem Alltag ausklinken, wenn wir die große Freiheit auskosten und die weite Welt erkunden. Doch zunächst einmal mussten wir feststellen, dass der Weg bis zum endgültigen Entschluss aufzubrechen fast schwieriger ist als das Unterwegssein. Zuerst mussten wir einige Barrieren aus dem Weg räumen: in unserem Kopf. Vor allem die Wohlfühlzonen-Barriere. Wir ließen keine Ausreden mehr gelten, kündigten unsere Jobs, gaben unsere Wohnung auf, verkauften unser Auto, ließen so ziemlich alles hinter uns. Selbstverständlich zweifelten wir immer mal wieder. Aber nur kurz. Unsere Abenteuerlust war größer. Und wir merkten, dass der Mut, sich überhaupt erst aufzumachen, bereits ein wichtiger Teil der Reiseerfahrung ist.

Einschneidender aber sind die Erlebnisse unterwegs – was ich auch daran merke, dass mir kein Bild aus der Zeit, als wir uns entschlossen haben, durch den Kopf schießt. Diese zehn Monate haben vor allem eines verändert: meine Sicht auf die Welt. Natürlich hatte ich vorher eine Vorstellung von Orten und Ländern. Aus Fernsehreportagen, Magazinen, von Fotos. Doch das ist nichts im Vergleich mit dem eigenen 360-Grad-Blick, inklusive der Gerüche, Geschmäcker und der dreckigen Hose. Wenn mir vor unserer Reise jemand etwas über die Serengeti oder Rio de Janeiro erzählte, bekam ich eine Idee und konnte es einordnen. Seitdem ich wirklich dort war, kann ich mir ein komplettes Bild machen. Dass zum Beispiel in Bolivien für viele Familien zuerst das Überleben kommt und danach erst der Gedanke, ob ihre Kinder, statt zu arbeiten, lieber zur Schule gehen sollten, ist schwer zu schlucken. Als wir da waren, bekamen wir eine Ahnung, wie die einzelnen verworrenen Fäden der Wirklichkeit zusammenhängen, aus der Ferne sieht man oft nur das große Knäuel.

Die Reiseroute von Johannes und Dörte Nedo

Die neue Sicht auf die Welt lehrt Demut

Es gibt unendlich viele spannende Orte, von den spannendsten kann einem vorher niemand etwas erzählen. Denn es sind jene, mit denen man besondere Erlebnisse verbindet. Oder haben Sie je von Fort Portal in Uganda gehört? Von Bulawayo in Simbabwe? Von Puerto Lopez in Ecuador? Von Palomino in Kolumbien? Das alles sind Orte, die auf keiner Muss-man-auf-Weltreise-gesehen-haben-Liste auftauchen. Aber für mich gehören sie definitiv dazu, weil ich dort großartigen Menschen begegnete oder großartige Momente teilte.

Die andere, neue Sicht auf die Welt hat mich jedoch vor allem eines gelehrt: Demut. Zu sehen, unter welch einfachen, ja ärmlichen Bedingungen so viele Menschen leben, lässt mich nicht mehr los. Gerade diese Menschen waren so unglaublich gastfreundlich und haben von ihrer kleinen Habe noch abgegeben.

Manchmal schämte ich mich für mein privilegiertes Leben. Oft traute ich mich gar nicht zu erzählen, wie lang wir unterwegs waren, dass wir dafür unsere Jobs gekündigt hatten. Wir in Westeuropa besitzen so viel, meist auch viel Platz, und wir teilen so selten. Wie wenig man tatsächlich braucht, haben wir an uns selbst unterwegs gemerkt. Mit dem, was in einen Rucksack passt, kann man locker zehn Monate überstehen. In nicht weniger als sechzig Kisten hatten wir zuvor unser Hab und Gut eingelagert. Nach der Rückkehr wurde mir erst richtig bewusst, wie viel – und wie viel unnützes – Zeug uns gehört. Alles nur Ballast.

Die Reise gibt Selbstvertrauen

Überhaupt habe ich unterwegs viel über mich selbst gelernt, überraschend viel. Ich kenne mich jetzt ein gutes Stück besser. Und ich kann mit mir deutlich besser umgehen. Vor der Reise habe ich oft und viel gegrübelt und gezweifelt. Über meinen Job, über die Familie. Meist habe ich mich unter Druck gesetzt, es allen recht zu machen. Ich bin jetzt gelassener geworden. Irgendwie weiß ich nun, alles wird schon klappen. Unterwegs habe ich so viele Menschen getroffen, die bangen und improvisieren müssen und dennoch optimistisch bleiben. Auch meine Stärken sind mir bewusster. Diese Reise gemeistert zu haben verleiht mir mehr Mut. Es  gibt mir mehr Selbstvertrauen.

Längeres Reisen unterscheidet sich deutlich vom Urlaubmachen. Wir hatten keinen durchgetakteten Reiseplan. Wir steuerten auch nicht nur die Höhepunkte an. Wir wollten nicht Sehenswürdigkeiten abhaken, sondern die Orte wirklich kennenlernen, so gut es eben ging. Das war immer wieder herausfordernd und manchmal auch anstrengend, dann lohnte es sich aber umso mehr. In Ostafrika reisten wir nur mit öffentlichen Bussen. Meistens saßen wir eingezwängt mit 15 anderen Leuten in einem Minibus, der höchstens Platz für zehn bot. Doch wir kamen den Menschen nah, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Wir wollten das so, unbedingt. Natürlich reist man gern im geräumigen Jeep, nimmt danach eine warme Dusche und übernachtet in einem gemütlichen Bett, aber die Wochen, die wir in Uganda und Tansania auf dem Dorf verbrachten, in einfachen Hütten und ohne fließendes Wasser, gehörten zu den eindrücklichsten unserer Reise.

Nie ein Gefühl der Bedrohung

Unsere Auszeit kann man nicht mit einem Drei-Wochen-Trip vergleichen. Wenn man so unterwegs ist wie wir, geht für das Reisen einfach viel Zeit drauf. Eine Unterkunft finden, die Fahrpläne studieren, Bustickets kaufen, Wäsche waschen, Geld umtauschen. Das kann schlauchen. Zudem setzt das Budget natürliche Grenzen. Wir wogen immer wieder ab, wo wir auch mal sparen können. Und nach etwas Eingewöhnungszeit schauten wir uns das Verhandlungsgeschick der Einheimischen ab.

Es mag seltsam klingen: auch wenn wir an unglaublich vielen schönen Orten waren, brauchten wir zwischendurch manchmal Urlaub vom Reisen, um unsere Batterien aufzuladen. Einfach mal nur in der Hängematte liegen oder lange ausschlafen. Denn so etwas wie Routine kommt nie auf. Jede Stadt ist neu. Nirgends kannten wir uns aus.

Unterwegs mussten wir stets ausbalancieren, wie wir uns einerseits vollkommen auf das alltägliche Leben einlassen können und andererseits nicht zu viel riskieren. Das hat außergewöhnlich gut geklappt. Während der gesamten Reise fühlten wir uns nie bedroht oder in Gefahr. Außer bei zwei kleinen Taschendiebstählen (ein MP3-Player und ein Moskitonetz) kam uns in zehn Monaten nichts abhanden. Wir hatten Glück, aber auch viel gesunden Menschenverstand. Wir wissen jetzt, dass Reisen in Afrika und Südamerika weniger gefährlich ist, als man denkt. In die Nachrichten schaffen es eben nur die – wenigen – Horrorgeschichten.

Irgendetwas verpasst man immer

Seit unserer Rückkehr begleitet uns ständig eine Frage. Sie ist naheliegend – und die Antwort ungeheuer knifflig: „Was war am schönsten?“ Dabei komme ich immer ins Straucheln. Natürlich gibt es unterwegs Höhepunkte, aber den einen Höhepunkt, nein, den gibt es nicht. Das Schönste an unserer Reise war, alles miteinander kombinieren, all die Eindrücke zu einem großen Reisemosaik zusammenfügen zu können. Das Schönste war, so viel Zeit zu haben. Am Anfang fiel es uns schwer, damit umzugehen.

Wir versuchten, so viel wie möglich „abzudecken“ und so viel wie möglich zu sehen. Irgendwann ließen wir das. Wir blieben länger an einzelnen Orten. Und wir ließen uns nicht mehr von dem Hinweis „Bloß nicht verpassen!“ treiben. Irgendwann hatten wir aber auch leicht reden. Wurde ein Wasserfall in der Nähe angepriesen, sagten wir uns: „Wir haben die größten Wasserfälle der Welt gesehen – die Victoria-Fälle – und die zweitgrößten – die Iguazu-Fälle. Müssen wir den jetzt auch noch mitnehmen?“ Irgendetwas verpasst man immer. Das ist aber auch nicht schlimm. Wir lernten einfach, dass zehn Monate in gewisser Weise auch nicht so lang sind.

Sicht auf Deutschland hat sich verändert

Außerdem lernten wir einiges über unsere Vorlieben. Wir begeisterten uns mehr für die Natur als für die Metropolen. Zwar gibt es in den Städten immer viel Kultur, viel gutes Essen und viele Menschen auf einem Fleck, aber auf gewisse Weise ähnelten sie sich darin alle. Ganz anders wirkten auf uns die Gebirge, Dschungel, Wüsten oder Küsten: viel abwechslungsreicher und überraschender. Doch so sehr die Sehenswürdigkeiten mehr für beeindruckende Fotos taugen, das Beeindruckendste an unserer Reise waren all die spannenden Menschen, die wir getroffen haben.

Das mag abgedroschen klingen, aber daran gibt es nichts zu rütteln. Unterwegs ist uns absolut klar geworden: es gibt so viele wundervolle Menschen auf der Welt! Das ist kaum zu glauben! Überall begegneten uns die Leute unglaublich gastfreundlich und hilfsbereit. Im tansanischen Daressalam nahm uns eine Familie bei sich auf, obwohl sie noch mit dem Hausbau beschäftigt war. In Uruguays Hauptstadt Montevideo zahlte eine Studentin im Bus die Fahrscheine für uns, weil der Busfahrer unseren Geldschein nicht wechseln konnte. Im peruanischen Lima beherbergte und bekochte uns eine wildfremde Familie und brachte uns danach zum Busbahnhof, als wären wir ihre eigenen Kinder.

All das Gute, das uns widerfahren ist, wollen wir zurückgeben. Wir sehen es als Ansporn, genauso gastfreundlich und hilfsbereit zu sein. Schließlich haben wir selbst erfahren, wie großartig das ist. Meine Sicht auf Deutschland hat sich ebenfalls verändert. Dinge, die mir vorher als selbstverständlich erschienen, weiß ich nun zu schätzen: dass wir vor den Fenstern unserer Wohnungen keine Gitterstäbe zur Sicherheit anbringen müssen, dass wir der Polizei und unseren Institutionen vertrauen können, dass wir ein kostenloses Bildungssystem genießen oder dass sich der Staat um Kranke und Arme kümmert. Mir wurde bewusst, auf welch hohem Niveau es uns gutgeht in Deutschland. Und dennoch sind wir oft unzufrieden.

Der Lebenstraum ist erfüllt – ein seltsames Gefühl

Jetzt haben wir uns unseren Lebenstraum also erfüllt. Das ist ein wunderschönes Gefühl, aber auch ein seltsames. Das große Ziel ist erreicht. Ich wollte die weite Welt sehen, auf den einsamen und auf den ausgetrampelten Pfaden. Manchmal glaube ich, dass ich die Welt nun ein bisschen besser verstehe. Manchmal denke ich aber auch, dass ich die Welt jetzt nur noch schwerer zu fassen kriege. Das Unterwegssein werde ich vermissen, das Aus-dem-Busfenster-Schauen, und wie ich dabei immer etwas Neues entdecken konnte. Andererseits freue ich mich, nicht mehr aus dem Rucksack zu leben, meine Freunde und Familie wiederzusehen und im eigenen Bett zu schlafen.

Was bleibt also von der Reise? Für mich? Alles. Alles bleibt. Denn es ist die Reise meines Lebens. Und das Geniale daran ist: sie geht immer weiter.