Die Bundesregierung verabschiedet sich von der absoluten Gleichberechtigung aller Daten im Internet und will Überholspuren für bestimmte Angebote zulassen. Doch gleichzeitig soll die so genannte Netzneutralität verteidigt werden – jedenfalls ein bisschen.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Stuttgart - Die Bundesregierung hat sich de facto vom Prinzip der Netzneutralität genannten absoluten Gleichberechtigung aller Daten im Internet verabschiedet. Gleichzeitig will sie sicherstellen, dass Netzbetreiber nicht einfach ihre vorhandenen Leitungen für lukrative Kunden reservieren und andere Nutzer benachteiligen. Eine staatliche Regulierung soll gewährleisten, dass für hochwertige Angebote – etwa Internetfernsehen – tatsächlich neue Kapazitäten aufgebaut werden, heißt es in einem am Freitag in Berlin vorgestellten Positionspapier. Zwar bekennt sich die Bundesregierung weiter zum Begriff der Netzneutralität, will diese aber nur noch im offenen Internet durchsetzen, also im Bereich von Webseiten und ähnlichen Angeboten. Es soll bei der Durchleitung auch nur nach Qualitätsklassen und nicht nach einzelnen Inhalten oder Anbietern differenziert werden dürfen.

 

Mit dieser Zielsetzung wird Deutschland in den kommenden Monaten in die Verhandlungen innerhalb der EU gehen, wo zurzeit ein neuer Regulierungsrahmen für das Breitbandübertragungsnetz der Zukunft gesucht wird. Damit stärkt die Bundesregierung dem neuen deutschen EU-Digitalkommissar Günther Oettinger den Rücken, der im Gegensatz zu anderen Positionen innerhalb der EU-Kommission und im europäischen Parlament bereits angedeutet hat, dass er den Netzbetreibern mehr Spielraum geben will.

Die Regierung will die Debatte in der EU vorantreiben

Berlin will angesichts der bisher unübersichtlichen EU-Position bis Ende 2015 Klarheit schaffen. Den Takt dafür hat Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgegeben. Auf einer Veranstaltung des Netzbetreibers und Telefonanbieters Vodafone in Berlin sprach sie sich für eine gemäßigte Regulierung des Netzes aus. „Innovationsfreundliches Internet heißt, dass es eine bestimmte Sicherheit für Spezialdienste gibt“, sagte Merkel. Diese Dienste sollten im Netz Vorrang bekommen können. Bei Netzaktivisten stieß diese Linie auf scharfen Protest. Nur die gleichberechtigte Übertragung aller Daten habe das Netz zum elementaren Teil der weltweiten Gesellschaft gemacht, sagte Stefan Körner, Bundesvorsitzender der Piratenpartei: „Wenn Merkel jetzt der Lobby der mächtigen Player im Netz nach dem Mund redet und die Netzneutralität in Frage stellt, zeigt sich einmal mehr, wie gefährlich eine von Lobbyisten getriebene, ahnungslose Regierung für unsere wichtigen Systeme ist.“

Allerdings sind die Konfliktlinien in der Debatte längst nicht mehr eindeutig. Der einst absolut gemeinte Begriff der Netzneutralität wird heute im Detail sehr unterschiedlich interpretiert. Es ist technisch unbestritten, dass innovative Angebote im Internet nicht nach den bisherigen Parametern des World Wide Web funktionieren können. Selbst das Europaparlament, das vor wenigen Tagen im Rahmen einer Erklärung zum Internet nicht nur demonstrativ die Zerschlagung von Google forderte, sondern sich auch nachdrücklich zum Prinzip der Netzneutralität bekannte, ist bei den Vorbereitungen für ein europäisches Telekommunikationsgesetz auf eine gemäßigte Linie eingeschwenkt.

Strittig bleibt vor allem, wo die Grenzlinie für die Spezialdienste gezogen wird und welche Regulierung es braucht. Es besteht weitgehend Konsens, dass etwa Dienste für das autonome Fahren oder für Fernoperationen, wo es weniger um Kapazitäten im Netz geht als um schnelle und absolut zuverlässige Datendurchleitung, Vorrang erhalten können. Heikler ist die Frage, ob auch datenaufwendige Videoangebote dazugehören.

Im Konzept der Bundesregierung sind Telefon und Rundfunkangebote ausdrücklich als Anwendungen genannt, die auf sogenannte Überholspuren im Netz zurückgreifen dürfen. Dies gelte, „so lange sie das offene Internet nicht gefährden“, heißt es. Umstritten ist auch das von Berlin favorisierte Konzept der nachträglichen Regulierung. Die Regulierer sollen erst eingreifen, wenn Zusatzdienste das übrige Netz nachweislich beeinträchtigen. Verfechter einer konsequenten Netzneutralität halten solche Befugnisse für zu schwach.