Mehr als fünf Jahre lang haben 70 Forscher fast 36 000 Verse von Luthers Bibel kritisch hinterfragt - und Tausende Änderungen vorgenommen. Das Erscheinen der neuen Bibel ist einer der Höhepunkte des Lutherjahres 2017.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - Nördlingen ist für viele herausragende Ereignisse bekannt. Die 20 000 Einwohner zählende Gemeinde im schwäbischen Landkreis Donau-Ries in Bayern liegt inmitten des Nördlinger Ries, dem Krater eines gigantischen Meteoriten, der vor 15 Millionen Jahren in die Alb einschlug.

 

1522, drei Jahre nachdem Martin Luther (1483–1546) seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel und andere kirchliche Missstände ans Tor der Schlosskirche in Wittenberg genagelt hatte, führten Kaspar Kantz und Theobald Billicanus hier die Reformation ein. Auch die Schlacht vor den Toren der Stadt während des Dreißigjährigen Krieges im Jahr 1634, bei der die Kaiserlich-Habsburgischen über die Schweden und ihre protestantischen deutschen Verbündeten kolossal triumphierten, konnten den Siegeszug der Lutheraner nicht bremsen.

Vierte grundlegende Überarbeitung der „Biblia Deudsch“

Nun wird der reformatorischen Historie der Ries-Stadt ein weiteres Kapitel hinzugefügt. An diesem Donnerstag beginnt in der ehemaligen Reichsstadt der Druck der neuen Lutherbibel. Am 19. Oktober soll der neue Bibeltext in den Buchhandlungen liegen. Gut ein Jahr vor dem Höhepunkt der Feierlichkeiten: der 500. Wiederkehr des (historisch umstrittenen) Thesenanschlags am 31. Oktober 1517. S

Seit Luther 1534 seine „Biblia Deudsch“ erstmals komplett veröffentlichte (das Neue Testament erschien 1522 in deutscher Sprache), wurde sie bisher nur drei Mal (1892, 1912, 1964-1984) grundlegend überarbeitet. Zuletzt galt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 32 Jahre lang die revidierte Fassung von 1984, mit den beim Kirchenvolk äußerst unbeliebten sprachlichen Glättungen.

Doctor Martinus Luther unvergleichliches Original

Was wäre eine 500-Jahr-Feier ohne eine Rückbesinnung auf des „Doctor Martinus Luther“ unvergleichliches Original? Nichts anderes wollten die 70 Theologen, die mehr als fünf Jahre über dem Großwerk des Vaters der Reformation in Deutschland brüteten und den Text modernisierten.

Modernität bedeutet in diesem Fall: zurück zu den Wurzeln, zurück zum Original. Frühere Änderungen wurden massenweise wieder verworfen, die Übersetzer kehrten zur Ur-Verdeutschung Luthers zurück. Von den insgesamt 35 598 Bibelversen wurden 44 Prozent geändert, der allerneueste Stand der biblischen Forschung wurde eingebracht. Martin Luthers Sprachgewalt und theologische Genialität, seine geistige Impulsivität und geistliche Inbrunst feiern in dieser vierten Revision fröhliche Urständ.

Gewaltige Sprachschöpfung

Der ungeheure Erfolg der „Biblia Deudsch“ war nicht nur dem Massenbuchdruck und ihrer allgemein verständlichen Sprache zu verdanken. Luther selbst war es, welcher der Bibel wieder ihren herausragenden Stellenwert verschaffte.

Seine zentrale theologische Erkenntnis wurde zum Programm der gesamten Reformation: Gott selbst offenbart sich in der Bibel. Man braucht nicht Kirche, Bischöfe und Priester, um zu ihm wie ein Bittsteller vorgelassen zu werden. Jeder Gläubige hat durch die Heilige Schrift direkten Zugang zum „Vater im Himmel“ und zu Jesus Christus dem „fleischgewordenen Wort Gottes“.

Aller Mühe wert

Ist es überhaupt noch zeitgemäß, so viel Gedankenschmalz, Geld und Zeit in eine Übersetzung zu investieren, obwohl immer weniger Christen und Nichtchristen im Buch der Bücher lesen? Eindeutig: Ja! Die Lutherbibel ist mehr als eine Übersetzung. Sie ist der geistige Boden, auf dem die deutsche Sprache und Kultur gedeihen konnte.

Ein Erbe, das der ganzen Welt und nicht nur einem Land gehört. Dieses Erbe über alle Glaubens- und Unglaubensgrenzen hinweg zu hegen und zu pflegen ist eine Aufgabe, für die keine Mühe zu groß, kein Weg zu weit ist.