Im Lauf der Jahrzehnte sind die Adaptionen des Kinderbuchklassikers „Heidi“ immer niedlicher geworden. Dieser Realfilm räumt auf mit der falschen Idylle.

Stuttgart - In stürmischen Zeiten sucht man Trost bei den Klassikern. Gleich zwei weltbekannte Stoffe der Kinderliteratur erfahren gerade eine Neuauflage im Kino: „Der kleine Prinz“ und „Heidi“. Letztere ist neben Schokolade, Käse und Bankgeschäften wohl das Wahrzeichen der Schweiz.

 

Dies ist bereits der zwölfte Spielfilm über das Waisenkind, das von seiner Tante zum Einsiedlergroßvater auf die Alm abgeschoben wird, von den zahlreichen Serien und Trickfilmen bis hin zum japanischem Anime ganz zu schweigen. Trotzdem: „Heidi“ ist richtig gut geworden!

Hartes Leben in den Bergen

Die deutsch-schweizerische Realfilm-Koproduktion berührt, ohne je süßlich zu werden. Eher zeigt sie Ecken und Kanten. Heidi, von der neunjährigen Graubündnerin Anuk Steffen als freiheitsliebender Wildfang mit zerzaustem dunklen Haarschopf hinreißend gespielt, öffnet alle Herzen, auch die des wortkargen, knurrigen Alm-Öhis (Bruno Ganz als Idealbesetzung). Aber bekanntlich dauert es mit der Annäherung zwischen Opa und Enkelin.

Anfangs möchte der Öhi das Kind im Dorf beim Pfarrer abgeben, der es grob auffordert, „das Maul zu öffnen“, um sich vom Gesundheitszustand der Zähne zu überzeugen. Gleich hier wird deutlich, dass trotz großartiger Naturaufnahmen von Idylle keine Rede sein kann. Wie hart das Leben in den Bergen damals war, zeigen auch die nächsten Szenen, in denen Heidi den Geißenpeter kennenlernt und mit dem hungernden Buben einen Deal abschließt. Er bekommt jeden Tag ihr halbes Vesper, wenn er die Ziegen nicht mehr schlägt.

Zurück zu Johanna Spyri

Der Regisseur Alain Gsponer, Absolvent der Ludwigsburger Filmakademie, der 2002 mit „Kiki und Tiger“ bekannt wurde, gewinnt dem Heidi-Stoff, dem er schon als Student eine Kurzfilmsatire widmete, frische, faszinierende Facetten ab.

Auch die Drehbuchautorin Petra Volpe muss sich intensiv mit Johanna Spyri und ihren erfolgreichen Werken „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ von 1880 und „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“ von 1881 auseinandergesetzt haben. Denn was immer später aus den Büchern gemacht wurde, die besondere, damals gar nicht selbstverständliche Art von sozialem Realismus in Geschichten für Kinder, der Spyri anhing, durchzieht auch diesen Film.

Auch das sehr junge Publikum darf hier spüren, dass Kinder damals keine Rechte hatten, etwa wenn Heidi von ihrer Tante nach Frankfurt ins Haus einer reichen Familie als Gefährtin für Klara verkauft wird. Bis ins kleinste Detail sorgfältig inszeniert und großartig gespielt, wird der Schweizer Mythos so zu einer lebensnahen und endlich wieder mitreißenden Geschichte.

Heidi. Deutschland, Schweiz 2015. Regie: Alain Gsponer. Mit Anuk Steffen, Bruno Ganz, Quirin Agrippi, Hannelore Hoger, Maxim Mehmet, Peter Lohmeyer. 105 Minuten. Ohne Altersbeschränkung.