Der Schriftsteller Martin Walser lotet in seinem neuen Roman „Muttersohn“ verschiedene Möglichkeiten des Glaubens und der Sprache aus.  

Stuttgart - Schaut euch diesen Menschen an! Percy Schlugen, ein Psychiatriepfleger von Anfang dreißig, tut Gutes denen, die ihn ablehnen, heilt die Kranken und richtet die Versehrten auf. Je länger man, Martin Walsers neuen Roman „Muttersohn“ lesend, mit ihm zu tun hat, desto mehr ist man bereit, sich auf die Vorstellung einzulassen, zur Zeugung dieses Menschen sei tatsächlich kein Mann notwendig gewesen. Dieser Glaube nämlich ist es, was Percy, Jahrgang 1977 und benannt nach Percy Sledge (dem wir den Klammerbluesheuler „When a Man Loves a Woman“ verdanken), von seiner Mutter mit auf den Lebensweg bekommen hat. Dies, und einen Schatz von Ausdrucksweisen.

 

Denn Walser macht hier zum Gegenstand des Erzählens, was andere Schriftsteller vielleicht als ihr Material bezeichnen würden, die Sprache. Er bedient sich dabei des christlichen, genauer, des katholischen Mythos, und er treibt auf die Spitze, was bei vielen wesentlich jüngeren Autoren in den letzten Jahren untergründig wirksam wird: die Reanimation vielleicht nicht des religiösen Sprechens, aber jedenfalls des Sprechens von der Transzendenz.

Leser begegnet veritablen Schmerzensmännern

Percy ist ein Wunder auf zwei Beinen, hat einmal am Weihnachtstag wunderbar einen Autounfall überlebt, kann mit seiner Arglosigkeit hartgesottene Fernsehleute und Motorradrocker wundersam für sich einnehmen, ist in alle Frauen verliebt – und muss sich die Liebe zur einen versagen; ein Verzicht, den er wie eine Dornenkrone trägt. Aber in den fünf Großkapiteln dieses 500-Seiten-Romans begegnet der Leser weiteren veritablen Schmerzensmännern – Männern, die Schmerzen leiden, Männern, die Schmerzen zufügen, oder beides.

Percys Mentor Professor Augustin Feinlein etwa; die Geschichte des herzensedlen Chefarztes am Psychiatrischen Landeskrankenhaus Scherblingen, der dem Konkurrenten die ewig geliebte Frau und letztlich sein Lebenswerk überlassen muss, hat Walser bereits im vergangenen Jahr als Novelle unter dem Titel „Mein Jenseits“ in der Berlin University Press seines Freundes Gottfried Honnefelder vorab veröffentlicht. Oder Ewald Kainz, den Mann, dem Percys Mutter Josefine, als sie noch nicht Mutter war, einst bei einer Demonstration in Stuttgart gegen – nein, nicht Stuttgart 21, sondern gegen Berufsverbote das Mikrofon in den Wind vor dem Neuen Schloss hielt, den sie fortan liebte, ohne ihn je wiederzusehen, dem sie nie abgeschickte Briefe schrieb, bis der Liebeswunsch Leibesfrucht wurde; diesen Ewald Kainz findet Percy als verstümmelten, verstummten, lebensmüden Patienten in Scherblingen vor, nachdem der das eheliche Vertrauen seiner Lebensretterin Elsa Frommknecht missbraucht und verloren hatte.

Entgegengesetzte Möglichkeiten der Sprache

Zu den beiden Flügeln, die das zentrale Percy-Bild dieses Klappaltars rahmen, gesellt sich, in der Art einer Predella, das Porträt des Mannes, den die junge Josefine „Fini“ Schlugen in den frühen sechziger Jahren heiratete, ganz am Anfang der Geschichte, ohne ahnen zu können, was damit auf sie zukam. Als „Hugo“ Schwillk hatte er von Köln aus mit ihr flammendste Briefe gewechselt, als „Arno“ traf er in Stuttgart ein, es stellte sich heraus, er war schwul, nach einer Verurteilung wegen Unzucht mit Minderjährigen nur auf Bewährung entlassen und deshalb heiratswillig. Und ein glühender Verehrer von Arno Schmidt, dem „in überhaupt keine Verlegenheit kommenden Wortmacher, Satzmeister, Sinnstrotzer“ und „zarten Rüpel“.

Ausgerechnet Finis Arno, der Adept des bis heute wohl einflussreichsten deutschen Schriftstellers der Nachkriegszeit, dessen intellektuelle Durchschlagskraft Sprach-Beherrschung mit rigorosem Humanismus verband, entwickelte sich in dieser speziellen Form der Josephsehe zum schlimmsten Prügelgatten und Beziehungsfaschisten und brachte seine Frau fast ums Leben und wahrscheinlich um den Verstand. – Denkbar wäre, dass mancher sich nun das Gewand gut lutherisch mit den Worten „Er hat Schmidt gelästert, was dürfen wir weiter Zeugnis?“ zerreißt. Aber Walser geht es nicht oder nicht hauptsächlich darum, auf diesem ironischen Umweg dem knapp eine Generation älteren Autor posthum eine mitzugeben. Hie Arno, der haltlose Kulturkritiker, da die Bauerntochter, Autodidaktin und Schneiderin Fini (eine Gestalt wie eine Verbeugung vor Maria Beig), sie beide repräsentieren – entgegengesetzte – Möglichkeiten der Sprache: Wo die eine ihre Identität erst in der nachsprechenden Begegnung mit Klassikertexten formulieren kann, muss der andere die verachtungsvolle Suada als bösartige Waffe gegen die Zumutungen der Welt und gegen sich selbst richten.

„Scherblinger Schweigen“ und „Schlafsacktherapie“

Vergleichbares gilt für den still verzweifelnden Professor Feinlein, dem neben der Musik und der Geschichte der Reliquien das Lateinische einen Modus vivendi bereithält, gilt für Ewald Kainz, der über dem unfassbaren Elend, das er wiederum in seiner Ehe mit der Logopädin (!) Elsa Frommknecht angerichtet hat, zum Erzähler und Dichter seines eigenen Lebens(-endes) wird, es gilt bis in die Nebenfiguren hinein.

Und es gilt ganz besonders für Percy Schlugen. Manchmal spricht dieser „Engel ohne Flügel“, wie seine Mutter ihn nennt, in Kirchen oder Versammlungssälen – in der Art eines „Pfingstmoments“, grundsätzlich ganz und gar unvorbereitet. Zu den Methoden des darob in der Psychiatrieszene durchaus berühmten Pflegers gehört das „Scherblinger Schweigen“ ebenso wie seine „Schlafsacktherapie“ – was bedeutet, dass er sich mit einer Patientin, zwei Schlafsäcken und einigen Flaschen Wasser einschließt und die heilende Kraft der gemeinsam und im Wechsel „by heart“ gesprochenen Sätze von Augustinus, von Heinrich Seuse, Jakob Böhme und Emanuel Swedenborg wirken lässt.

Seitenlang kommt man lesend in den Genuss der erhabenen Spekulation, der reinen Schau der Dinge zwischen Dasein, Ich und Gott, wie diese Theologen und Mystiker sie in ihre Sprache gefasst haben – bis schließlich Percy seinerseits drei sehr erhellende Sätze fallen lässt: „Wir müssen die Texte nicht ernst nehmen. Wir sagen sie auf, weil sie uns gefallen. Wie es ihnen dann in uns ergeht, wird sich zeigen.“

Manifeste der Weltverneinung

„Sprache, sonst nichts“ heißt ein im Jahr 1999 erschienener Aufsatz von Martin Walser, in dem er seine poetologischen Fundamente offenlegt. Auch darin geht er von Swedenborg und Böhme aus und schreibt Sätze wie: „Genau genommen, stellt die Sprache nichts dar außer sich selbst. (...) Wenn sie sich selbst entspricht, entspricht sie uns am meisten. (...) Was man in sich hat, weiß man nie. Man erfährt es durch Schreiben. (...) Man ist nicht der Kommandeur der Sprache, der die Einfälle herpfeift, sondern der, der so gestimmt ist, dass die Sprache eine Chance hat.“

„Muttersohn“ erzählt von einer Fülle von Menschen und Dingen, Motorradfahren und Chorgesang, von Biesen und Rössern, von Rom heute und von Stuttgart früher, von Bergen, Rhein und Bodensee, Fernsehtalkshow und Orgelspiel, vom Geleitetsein und von den schweren Wegen, auf die einen dies führen kann, von mehreren Leben und (auffallend vielen) Toden und selbstredend von Männern und Frauen. Und just in diesem Buch handelt Walser auf eine Weise von der Sprache selbst wie noch nie zuvor, wie nicht einmal in denjenigen seiner Romane, die Schriftsteller zu Hauptfiguren haben.

Walser holt weit aus und greift hoch

Er tut dies bis zum bitteren Ende. Percy, der helle Mensch, der von sich sagt „Ich bin gegen nichts“, trifft seine düstere Spiegelfigur Katze, den Anführer einer Motorradgang. Dessen Hassgebot lautet „Wir sind gegen alles außer gegen uns selbst.“ Auch Katze produziert Texte, aber es sind Manifeste der Weltverneinung, des – wie Walser es an dieser Stelle nicht zum ersten Mal nennt – „Heruntermachens“. Percy lässt sich selbst auf dieses luziferische Gegenüber ein; der Engel ohne Flügel umarmt den gefallenen Engel: „Gegen alles sein! Nichts ist euch recht, so wie es ist! Davon lebt ihr! Unverführbar! Das ist bewundernswert! (...) Wahrscheinlich werdet ihr die Weltherrschaft übernehmen.“

Percy begegnet auch dem mit Swedenborg: „Ich war von innerer Freude erfüllt ...“, mit dessen Rede vom „Ort der Liebe selbst“. In diesem Aufeinandertreffen zweier Welt- und Sprachhaltungen wiederholt sich die Unglücksehe von Fini und Arno. Darin drückt sich mehr aus als die handelsübliche Abwehr literaturkritischer Deutungshoheit. Das ist weit ausgeholt und hoch gegriffen. Ins Höchste.

Das ist, am Ende, beider Untergang. Percy, den Menschen der Heilung und der Heilssprache, bringt der Antipode, der „Runtermacher“ zur Strecke – und damit zugleich das Objekt seiner Hassliebe, und damit den Grund seiner eigenen Existenz. Wie könnte es anders sein? Auch ein hochbarocker, überbordend verzierter Klappaltar mit reichem Bildprogramm wie der, den Martin Walser uns in Gestalt von „Muttersohn“ hinstellt, kommt nicht ohne Gekreuzigten aus. Was mit der Auferstehung ist, steht auf einem anderen Blatt. Denn, wie es im Aufsatz „Sprache, sonst nichts“ heißt: „Je nötiger Gott wäre, umso deutlicher wird jetzt, dass er aus nichts bestehe als aus Sprache. Statt etwas haben wir Wörter.“

Termine rund ums Walsers "Muttersohn"

Buch: Martin Walsers Roman „Muttersohn“ erscheint kommende Woche im Rowohlt Verlag. Das Buch (512 Seiten) kostet 24,95 Euro, das Hörbuch, gelesen vom Autor (590 Min.), rund 29,95 Euro.

Lesung: Im Literaturhaus Stuttgart stellt Martin Walser sein Buch am Donnerstag, 14. Juli, vor. Die StZ-Literaturredakteurin Julia Schröder moderiert die Lesung (Beginn 20 Uhr). Am 27. Juli spricht Walser im Literarischen Colloquium Berlin mit den Kritikern Denis Scheck, Jörg Magenau und Julia Schröder über „Muttersohn“. Dieses „Studio lcb“ strahlt der DLF am 30. Juli um 20.05 Uhr aus.