Die Büchnerpreisträgerin Brigitte Kronauer lichtet in ihrem neuen Roman „Gewäsch und Gewimmel“ das Chaos der Gegenwart. Vom Kleinsten und Geringfügigsten her nimmt sie das große Ganze in den Blick.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wenn die Heilgymnastin Elsa Gundlach abends mit ihrem Freund im Bett liegt, kann Sie nicht schlafen. Sie muss an ihre Patienten denken. Ein Geflimmer von Gesichtern und Schicksalen, das in ihr arbeitet und rumort. Wir therapeutisch unbeleckte Leser würden auf Reizüberflutung tippen. Denn bei Elsa gehen sie alle aus und ein und turnen sich die irritierte Seele aus dem Leib. Was sie krank macht, ist das Leben, doch dieses ist schwer zu greifen. Wenn man es versucht, zerspringt es in funkelnde Splitter aus Geschichten, Anekdoten, Nachrichtenmüll. „Warum hast du bloß mit der Heilturnerei angefangen, statt gleich Romane abzuliefern“, äußert der Freund schlaftrunken. Vermutlich deshalb, weil aus diesen Trümmern und eigenwilligen Einzelheiten gemeinhin alles wird, nur kein Roman. Es müsste denn mit dem Teufel zugehen, bekanntlich steckt der im Detail.

 

Die Büchnerpreisträgerin Brigitte Kronauer hat sich stellvertretend für die unruhige Therapeutin diesem Werk verschrieben. Mit Romanen wie „Teufelsbrück“ lieferte sie bereits Kostproben ihrer Schwarzkunst, aus den Niederungen des Alltags in Sphären zu entrücken, wo Märchenwesen und Bildungsausgeburten um die Seelen ihrer Protagonisten streiten. Nun versenkt sie sich in das „Gewäsch und Gewimmel“, das ihrem wundersamen neuen Buch den Namen gibt und ihrer Romanfigur wie uns allen den Schlaf raubt. Schwarzkunst als gehobene Schwatzkunst.

Miniaturen aus dem privaten Leben

Untermalt vom Ereignisrauschen, über das die „Direktricen der Weltkatastrophen“, vulgo Nachrichtensprecherinnen, gebieten, begegnen wir einer Menge von Leuten, jungen, alten, reichen, geringverdienenden, liebenden und verschmähten, schönen und solchen wie der Tochter von Luise Wäns: herb, ruppig und ein wenig ungeschlacht. Sie eilen vorbei, kehren wieder in anderen Zusammenhängen, man folgt ihnen einige Schritte, bevor man vom nächsten wieder abgelenkt wird.

Frau Fendel himmelt den Pastor Dillburg an, dessen Bruder wiederum in mehr als irdischen Angelegenheiten in der Halbwelt Wiens verkehrte, Eva Wilkens haut ab nach Tadschikistan, Herr Wind in die Berge, der wenig erfolgreiche Komponist Hans Keller hadert mit seiner Kunst und den Wenigen, die sie hören wollen. Und der Schriftsteller Pratz vergnügt sich in der bewährten „Dreifelderwirtschaft Beruf, Familie, Liebschaftenallerlei“, für die Nachwelt die posthume Enthüllungsgeschichte seines Lebens zu arrangieren. Mit sublimer Bosheit, sprachlicher Brillanz und entwaffnendem Witz zeichnet Kronauer diese Miniaturen aus dem privaten Leben, die mal ins Aphoristische, mal ins Porträtistische gleiten, manchmal auch einfach irgendwo dazwischen ins Rätselhafte abbiegen.

Ein Werk vollendeter Reife

Im Zentrum dieses wie ein Triptychon angelegten Romans stehen die Wanderungen der Luise Wäns, der Lieblingspatientin von Elsa. Sie führen in ein Reich zwischen Zivilisation und wuchernder Urwelt, in dem Hans Scheffer, der König des Hochmoors, regiert. Im Naturschutzreferat kämpft er gegen rülpsende Riesen und einen skrupellosen Oberbürgermeister für die Renaturierung der Welt. Er ist ein Genius der Liebe, Sonne und Mittelpunkt eines leicht morbiden Kreises von gefährdeten Paaren, Frauenärzten, Galeristinnen und ökologischen Fleischern voll donnernder Herzlichkeit. Wie ein Bollwerk gegen die andrängende Gegenwart steht dieses Treibhaus der Triebe. Es wird am Ende geschleift – und Hans vom Hochmoors Kraft der Liebe wird in eine traurige Hochzeit mit Luises hässlicher Tochter überführt.

Auch wenn dies entfernt wie eine Handlung klingt, ist doch entscheidender die Form, in der sie Gestalt gewinnt. Sie ist der Malerei entlehnt. Vom Kleinsten und Geringfügigsten her nimmt Kronauer das Ganze in den Blick. Sollte man für ihr Verfahren ein Beispiel geben, man fände es vielleicht in der Kunst jenes großen Manieristen Arcimboldo, der aus raffiniert angeordneten Schoten, Früchten, Ähren dem Gott der Jahreszeiten Gesicht und Gestalt verleiht, dem sie ihre pralle Reife verdanken. Und um gleich im Bild zu bleiben: dieser Roman selbst ist ein Werk vollendeter Reife. Die bisweilen raue Schale des Sechshundert-Seiten-Trumms birgt wie ein Granatapfel unzählige fleischig ummantelte Kerne. Wer damit umgehen kann, gewinnt daraus ein stimulierendes Elixier der Erkenntnis, andere werden sich die Zähne ausbeißen.

Ein Heilsgeschehen mit einer Gesellschaftssatire übermalt

„Wir Schriftsteller überführen das Chaos in Ordnung, eine Prozedur wie der Stuhlgang, nur andersherum.“ So beschreibt der eitle Pratz das Geheimnis der Literatur. Umgekehrter Stuhlgang – bei aller fröhlichen Selbstironie gegenüber dem eigenen Geschäft trifft dies den Kern der Sache, wie man überhaupt den Kosmos dieses Romans an jeder Stelle mit sich selbst belegen kann. Je größer das Chaos, desto unbegreiflicher die Ordnung, die es umspannt. Kronauer setzt sich mit verspielter Grazie und unerschütterlicher Kühnheit dem Tosen der Unendlichkeit aus. „Vielleicht ist die wilde Welt selbst der große Gott, die rohe Welt, die mit unendlicher Wüstheit und Pracht vor dem Grauen des Sektierertums schützt“, sinnt Pastor Dillburg an einer Stelle einmal.

Als hätte man ein Heilsgeschehen mit einer Gesellschaftssatire übermalt: so elegant wie unerbittlich an der Oberfläche diabolischer Sprachwitz die Anfechtbarkeiten und Schwächen der Figuren offen legt, in der Tiefe ist der Roman eine einzige große Rechtfertigung des Daseins. In einer großartigen Vision zieht am Ende das sinnlose Erdengewimmel wie ein Sternennebel in den Himmel ein. Metaphysisch beruhigt können wir Gegenwartsversehrte uns schließlich schlafen legen – anders als jene Therapeutin. Was Heilturnerei nicht vermag, leistet Kronauers großer Roman.