Der Tübinger Mundartforscher Hubert Klausmann erklärt in seinem neuen Buch, warum der Dialekt sich ständig verändert und dadurch lebendig bleibt – und warum das Hochdeutsche in manchen Situationen die Atmosphäre stört.

Tübingen - Die Welt ist schon komisch. Da grämen sich die Stuttgarter wegen ihres schwäbischen Zungenschlags und würden lieber schickes Hochdeutsch können. Am östlichen Bodenseeufer dagegen, wo man seit Jahrhunderten Alemannisch spricht, breitet sich rund um Friedrichshafen das Schwäbische aus. Nicht nur, weil viele Schwaben dort arbeiten oder Urlaub machen. Sondern auch, weil es – als Idiom der Landeshauptstadt – offenbar das Prestige der Sprechenden erhöht. Herausgefunden hat das ein Wissenschaftlerteam rund um den Mundartforscher Hubert Klausmann.

 

Der Professor am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Volkskunde hat diese Entdeckung und viele andere in einem lesenswerten Buch über das Schwäbische festgehalten, das vor Kurzem im Theiss-Verlag erschienen ist. In vielen Karten wird der schwäbische Sprachraum mit seinen Unterräumen West-, Zentral-, Ost- und Südschwäbisch und seine Abgrenzung gegen Fränkisch und Bairisch gezeigt. Die Untersuchung ist sehr detailliert: Eine Karte zum Raum Stuttgart zeigt zum Beispiel, wie die Aussprache von „unser“ variiert. Im engen Kreis um die Landeshauptstadt heißt es „onser“. Doch schon in Waiblingen oder Sindelfingen sagen Dialektsprecher „ooser“, südostlich von Plieningen „auser“.

Interessant ist das Verhältnis von Dialekt und Hochdeutsch

Eine der vielleicht interessantesten Fragen ist das Verhältnis von Dialekt und Hochdeutsch. Wobei die Sprachwissenschaftler heute nicht mehr glauben, dass es ein einziges richtiges Deutsch gibt. Sie sprechen von einer Standardsprache mit mehreren Zentren. Im Norden nennt man den Tag vor dem Sonntag „Sonnabend“, im Süden ist „Samstag“ aber genauso richtig.

Spannend ist auch Folgendes: Neben Standardsprache und Dialekten gibt es in Süddeutschland Zwischenstufen. Zum Beispiel: So sprechen ein Calwer oder eine Göppingerin zuhause am Feierabend und am Wochenende ihren Ortsdialekt. An ihrem Arbeitsplatz in Stuttgart können sie das nicht, da sie dann nicht von allen verstanden würden. Deshalb wählen sie in solchen Situationen eine Zwischenebene. Von denen gibt es mehrere. So wechselt ein schwäbischer Dialektsprecher von „i hau gschafft“ zunächst zu „i han gschafft“, weiter zu „i hab gschafft“ bis hin zu „ich hab gearbeitet“ und schließlich zu „ich habe gearbeitet“. Deshalb stimmen die Forscher nicht in den Chor derer ein, die das Schwäbisch am Aussterben sehen. „Weil es sich verändert, ist es noch lebendig.“

Klausmann: Dialekt ist subtiler als Standardsprache

Süddeutsche Sprecher, erläutert Klausmann, wählen ständig intuitiv aus, welche Ebene angemessen ist, im Lautlichen wie im Wortschatz. „Norddeutsche erkennen das Registerspiel nicht“, sagt Klausmann. Der Dialekt ist subtiler als die Standardsprache: „Manchmal ist das Hochdeutsche einfach nicht angebracht. E stört die Atmosphäre.“ Klausmann rät Dialektsprechern zu Selbstbewusstsein. Daran mangelt es manchmal. Baden-württembergische Gymnasiallehrer des Faches Deutsch, die von den Forschern befragt wurden, hielten eindeutig norddeutsche Wörter wie „Harke“ oder „Abendbrot“ für Hochdeutsch und die süddeutschen Varianten „Rechen“ und „Abendessen“ für minderwertig.

Die Arbeit wird den Sprachforschern nicht ausgehen. „Das Schönste kommt noch“, sagt Klausmann. Sein Projekt hat im vergangenen Herbst Arno Ruoffs (1930-2010) Ton-Archiv übernommen. Dieser Tübinger Mundartforscher und seine Kollegen hatten seit 1955 mehr als 2000 Interviews aufgenommen und wörtlich aufgeschrieben. Das Ziel war, die Aussprache und den Wortschatz der Dialektsprecher zu dokumentieren. Die Ordner mit diesen Transkriptionen stehen in Tübingen neben den CDs mit den bereits digitalisierten Tonbandaufnahmen. Ihre Auswertung steht noch aus. Die Interviews sind oft recht ausführlich und umspannen zeitlich fast hundert Jahre. Der Älteste der Befragten erinnerte sich noch an Ereignisse von 1880. Die Leute erzählen von alltäglichen Dingen: Schule, Lehrzeit, Arbeit. „Es ist unglaublich, was da drin steckt, das hat inhaltlich noch keiner ausgewertet“, sagt Klausmann. Aus diesem Material, so hofft er, lasse sich eine Kulturgeschichte von Baden-Württemberg erstellen. „Das muss man publik machen, es ist ein großer Schatz.“