In Reutlingen gibt es Pläne, Teile des Rathauses einem neuen Einkaufszentrum zu opfern. Die Bürger wollen die Vorschläge nicht hinnehmen.  

Stuttgart - Das Reutlinger Rathaus ist kein Bauwerk, zu dem man auf Anhieb in Liebe entbrennt. In den sechziger Jahren von den Stuttgarter Architekten Wilhelm Tiedje und Rudolf Volz erbaut, fällt seine Entstehung in eine Zeit der architektonischen Kraftmeierei. Man machte damals um Tragen und Lasten viel Theater, Konstruktionen sollten "ablesbar" sein, die Materialien - meist Sichtbeton - möglichst unbearbeitet. In die Baugeschichtsbücher ist dieser Stil als Brutalismus eingegangen, abgeleitet vom französischen "brut", zu Deutsch rauh, unverputzt, aber es ist nicht zu übersehen, dass auch das deutsche Wort "brutal" darin steckt.

 

Der Brutalismus war das Antiprogramm zum Gefälligen, Glatten, Anbiedernden in der Architektur, aber populär wird man mit so einer Ausrichtung nicht, schon gar nicht in deutschen Gemütlichkeitslanden. Fast zwangsläufig gerät die ins Sanierungsalter gekommene Moderne der sechziger und siebziger Jahre daher nun überall in die Defensive. Wo zum Teil hohe Summen für die Instandsetzung erforderlich wären, stellt man sich doch lieber gleich was schönes Neues hin.

Das Ratsgebäude will die CDU erhalten

Dieser geschichtsvergessenen Logik folgt jetzt auch die Reutlinger CDU-Fraktion mit ihrem Vorschlag, das Rathaus am Marktplatz, mit dem der Wiederaufbau des kriegszerstörten Stadtkerns abgeschlossen wurde, teilweise abzureißen. Immerhin, das Ratsgebäude, einen voluminösen Muskelprotz mit außenliegendem Tragwerk, wollen die Christdemokraten erhalten. Verschwinden sollen dagegen die Verwaltungstrakte - oder wenigstens einer davon -, die den Ratssaalkubus L-förmig umgeben. Apart ist an dem Vorstoß aber besonders die Idee, den Altbau nicht durch einen moderneren Verwaltungsneubau zu ersetzen, sondern das Gelände zwecks Ausweitung der Konsumzone an einen Investor zu verscherbeln. Die Verwaltung will die CDU dann irgendwo auf der grünen Wiese oder an der Peripherie unterbringen. In Zukunft also Zara, Kamps und Fielmann statt Einwohnermeldeamt, Standesamt und Stadtwerke im Stadtzentrum? Bürgerferne statt Bürgernähe?

Keine Frage, es liegt an der Architektur der Nachkriegsmoderne, besser gesagt: an der Ignoranz gegenüber der eigenen, jüngeren (Bau-)Geschichte, dass man sie so bedenkenlos entsorgen zu können glaubt. Stünde noch das neugotische Rathaus aus dem 19. Jahrhundert am Reutlinger Marktplatz, das im März 1945 bei einem Bombenangriff in Trümmer fiel, würde keine Partei seine Zerstörung fordern können, ohne einen öffentlichen Aufschrei zu riskieren.

Geschichtsverein eröffnet Ausstellung

Doch auch am Fuß der Achalm sind die Bürger schon weiter als die Politik. So wie in Köln eine Bürgerinitiative den Abriss des Schauspielhaus-Ensembles von Wilhelm Riphahn verhinderte, wie die Bonner gegen die Demolierung der Beethovenhalle von Siegfried Wolske protestieren und die Tübinger die Beseitigung der Zentralmensa von Paul Baumgarten und des studentischen Clubhauses von Rolf Gutbrod abzuwenden versuchen, werden auch in Reutlingen die Rathaus-Planspiele der CDU nicht hingenommen wie Kanzelworte.

Um den Einwohnern die Augen zu öffnen, dass es sich bei dem Ensemble keineswegs um Wegwerfarchitektur handelt, zeigt der Reutlinger Geschichtsverein im Rathausfoyer die Ausstellung "Bestandsaufnahme(n)" mit Fotos von Rose Hajdu und Gottfried Planck. Wie sorgfältig geplant, wie gediegen das Haus von Tiedje/Volz bis heute dasteht, kommt vor allem in Hajdus farbigen Detailaufnahmen zum Ausdruck, die den Ist-Zustand dokumentieren: die noble kassettierte Holzdecke des Sitzungssaals, das sägezahnartige Treppenprofil im Foyer des Ratsgebäudes, die Bürowände mit den rahmenlosen Oberlichtern, der spröde Beton, der auf Schritt und Tritt reizvoll mit den geschliffenen Holzoberflächen kontrastiert.

Angenommen wurde das zugige Luftgeschoss nie

Gottfried Plancks historische Schwarz-Weiß-Bilder aus dem Jahr der Einweihung rufen dagegen in Erinnerung, wie die Anlage im "Original" gedacht war: Der Stuttgarter Architekt Max Bächer hat die lockere, unterschiedliche Freiräume ausbildende Komposition von Baukörpern einst mit einem "städtischen Wohnraum" verglichen. Der zwanglose, "direkte Kontakt zwischen Bevölkerung und Verwaltung" bestimme die Haltung der ganzen Planung.

Spurlos ist das halbe Jahrhundert seit seiner Entstehung aber auch am Reutlinger Rathaus nicht vorübergegangen. So wurde in die ursprünglich offene Erdgeschosszone des Ratsgebäudes irgendwann ein Café eingebaut. Im Prinzip wäre dagegen nichts einzuwenden, denn angenommen wurde dieses zugige Luftgeschoss nie. Aber die lieblose Billigkiste, die dem aufgestelzten Ratskubus untergeschoben wurde, ist nicht nur des höchsten Repräsentationsorts der Stadtgesellschaft unwürdig, sie verunklart vor allem auch die räumlichen Beziehungen. Übler noch: sie gibt dem Ratsgebäude eine Rückseite. So guckt man nun ausgerechnet vom Hof mit seinen öffentlichen Gartenanlagen in die gekachelten Hinterzimmer des Gastronomiebetriebs und auf die tote Front des Ratskellers, den der Wirt aus unerfindlichen Gründen leerstehen lassen darf. Die Chance, diese Fehler bei der soeben erfolgten Sanierung des Hauses wieder gutzumachen, wurde leider verpasst.

Auch Reutlingen hat ein Stuttgart 21

Der Architekturhistoriker Adrian von Buttlar von der TU Berlin, vom Geschichtsverein zu einem Verteidigungsvortrag über das Rathaus eingeladen, spricht von einem "Gesamtkunstwerk". Nach den Prinzipien der klassischen Moderne sei der "Reutlinger Komplex vom Großen bis ins Kleinste in einem künstlerischen Duktus durchgestaltet". Auf bürgerfreundliche Weise habe die "Demokratie als Bauherr" hier die "administrativen und repräsentativen Funktionen" in einem Komplex zusammengeführt. Ohne den Kontext des Ensembles stünde das Ratsgebäude folglich auf verlorenem Posten, büßte "seinen Sinn und Charakter" ein, käme die partielle Zerstörung einem "Totalschaden" gleich. Die Reutlinger Baubürgermeistern Ulrike Hotz zitierte zur Ausstellungseröffnung den einstigen Reutlinger Oberbürgermeister Oskar Kalbfell: "Dieses Rathaus baut diese Stadt nicht für diesen Gemeinderat, nicht für diesen Bürgermeister und nicht für diese Beamten, sondern für diese Bürger, für heute, morgen und für die ferne Zukunft."

 Die Abrissbefürworter sollten sich daher im Klaren sein, dass es nicht um irgendein beliebiges Verwaltungsgebäude geht, sondern um einen hochsymbolischen Vorgang: Die Vertreter des Gemeinwesens überlassen dem Kommerz in einem Akt der Selbstmarginalisierung das Feld. Als Kollateralschaden hätten sie den Verlust eines städtischen Identifikationsortes auf ihre Kappe zu nehmen. Wen das nicht überzeugt, sollte einen Blick nach Stuttgart werfen, wo der Abriss ebenfalls vermeintlich entbehrlicher Flügelbauten ihm warnendes Beispiel sein könnte.

Die Ausstellung "Bestandsaufnahme(n)" im Rathaus-Foyer dauert noch bis zum 29. April, Mo-Fr zu den Öffnungszeiten des Rathauses.