In diesem Haus wird Zukunft gemacht: Das Fraunhofer-Institut hat sein Zentrum für Virtuelles Engineering in Stuttgart eröffnet.

Stuttgart - In diesem Haus wird Zukunft gemacht. Vor der Tür parken zwergenhafte Elektroflitzer, die wie Hummeln aufs Abdüsen zu warten scheinen. An herkömmliche Autos der Marke Protz & PS erinnert diese skurrile Minifahrzeugflotte nur noch entfernt. Drinnen haben einige Gäste schwarze Brillen mit Fühlern auf der Nase, die wie die 3D-Brillen vom Kino aussehen. Ohne sich von der Stelle zu rühren, bewegen sie sich damit auf einer virtuellen Besichtigungstour durch das Gebäude, in dem sie sich gerade befinden, während im Auditorium nebenan die Decke über den Köpfen der Besucher alle paar Minuten die Farbe wechselt: von intensivem Blau über Blassblau bis zu dahinziehenden Wolken – fast wie ein echter Himmel.

 

Im Zentrum für virtuelles Engineering (ZVE) des Fraunhofer-Instituts, das am Mittwoch mit Festakt und Ministerpräsident eröffnet wurde, werden unsere Lebens-, Arbeits- und Mobilitätswelten von morgen erforscht und im digitalen Feldversuch erprobt. Zur Einweihung lobte Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Fraunhofer-Gesellschaft als technologischen „Impulsgeber“ der Wirtschaft und Wissenschaft, Dieter Spath, der Direktor des Fraunhofer-Instituts, zitierte Einstein: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“

Kein stinknormaler Bau mit Büros links und rechts

Es versteht sich, dass diese „Experimentalplattform für Morgenstadt-Innovationen“ nicht in einem stinknormalen Heute-Bau mit Büros links, Büros rechts und einem Flur dazwischen Platz finden kann, sondern diese Plattform selbst verkörpern muss. Auf dem an architektonischen Extravaganzen nicht gerade armen Universitätscampus in Vaihingen behauptet sich das Gebäude denn auch selbstbewusst als Leuchtturm mit Fernwirkung: ein bulliges, dynamisch gekurvtes Kraftpaket mit mehreren Reihen sägezahnartig angeordneter Fenster und einem niedrigeren Fortsatz auf der Ostseite, dessen große Glasfronten sich wie eine Kaskade zum Foyer hin ergießen. Finanziert wurde das 14-Millionen-Projekt, das Büros, Labore und Ausstellungsflächen beherbergt, je zur Hälfte von Bund und Land.

Nicht von ungefähr hat man beim Anblick dieses Institutsneubaus ein Déja-vu-Gefühl. Man denkt sogleich ans Mercedes-Benz-Museum und liegt damit auch nicht falsch: Automuseum und ZVE haben ein ganz ähnliches DNA-Profil. Außen ist die Verwandtschaft schon unübersehbar, innen aber fällt sie noch stärker ins Auge: dasselbe offene Atrium, dieselben wirbelnden Raumkonstruktionen, Treppenunterseiten, die sich drehen und auf der nächsten Ebene Brüstung werden, Durchsichten und verschränkte Geschosse, ein kaleidoskopischer, sich nahezu mit jedem Schritt und jedem Blick verändernder Raumeindruck. Anders als das Betonpistengrau der Wände in Untertürkheim erstrahlt diese schöne neue Arbeitswelt aber in reinem Weiß, in dem die mal blau, mal gelb abgesetzten Treppenstufen und Fensterrahmen sparsame Farbtupfer setzen.

Architekten aus Holland und Kaiserslautern

Erzeuger ist hier wie dort das holländische UN Studio, zu dem in Vaihingen als weitere Väter noch die Architekten von Asplan (Kaiserslautern) und die Bauherrn mit ihrem wissenschaftlichen Knowhow selbst hinzukamen. Denn die komplexen wissenschaftlichen Einbauten waren nur in interdisziplinären Projektteams zu konzipieren und oftmals erst neu zu entwickeln, so dass am Ende nicht nur ein ungewöhnliches Gebäude herauskam, sondern auch die Planungs- und Bauzeit ungewöhnlich lange vier Jahre betrug.

Ben van Berkel, der UN-Studio-Chef, ist überzeugt, dass der Aufwand sich gelohnt hat, da hier der „Prototyp“ eines Gebäudes entstanden sei, das zeigt, „wie man das zeitgenössische Konzept des Arbeitsplatzes architektonisch umsetzen und so zu neuen Arbeitsmethoden für die Zukunft anregen kann“. Dazu mussten die Planer das Rad nicht unbedingt neu erfinden, bereits existierende Ideen – über „Shared space“ etwa oder Räume für temporäre Kooperationen – aber fantasievoller und konsequenter anwenden als es bisher geschieht.

Kommunikation ist das Schlüsselwort

Ein Schlüsselwort lautet Kommunikation, ein zweites multidisziplinäre Mischung. Und in der Tat weist das ZVE eine beachtliche Vielfalt unterschiedlichster Bürotypen auf, von der Denkzelle im Einzelbüro – das hier jedoch raumhohe Glaswände hat – über ineinanderfließende Arbeitsräume mit zahlreichen Sichtbezügen und flexible Versuchsbüros mit gemeinschaftlich genutzten Arbeitsplätzen bis zu formellen Besprechungszimmern und informellen Bereichen für spontane Zusammenkünfte bei einer Tasse Kaffee. Nicht wenige Ecken werden von eingebauten Pantrys eingenommen. Davor ausladende Sitzlandschaften oder einladend bunte Polstersessel. Ziel bei allem ist – nochmals der Fraunhofer-Chef Spath – die „Schaffung einer kreativitätsförderlichen Arbeitswelt für die Forschung an grundlegenden Inhalten“.

Das Zentrum für Virtuelles Engineering würde seinem Selbstverständnis als experimenteller Zukunftswegweiser jedoch nicht gerecht, wenn es nicht auch energetisch auf avanciertem Entwicklungsstand wäre. Kern des Energiekonzepts ist eine Geothermieanlage mit mehreren 170 Meter langen Erdsonden, die im Sommer Kälte und im Winter Wärme liefern. Neben wassergefüllten Rohren befinden sich in den Decken auch luftgefüllte Kunststoffkugeln. Dadurch musste weniger Beton verbaut werden, wobei die leichteren Decken größere Spannweiten und stützenfreie Räume ermöglichten.

Der Tank der Sprinkleranlage wird als Energiespeicher für die Abwärme aus den Rechnerräumen oder den Hochleistungsprojektoren der Virtual-Reality-Labore genutzt. Ehrensache, dass ein Energiemess- und Monitoringsystem die Wirkung der verschiedenen Maßnahmen analysiert. Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen fand das Konzept jedenfalls so intelligent und ideenreich, dass sie dem Zentrum gleich zur Eröffnung ihr DGNB-Zertifikat in Gold überreichte.