Exklusiv Das größte Institut zur aktuellen China-Forschung in Europa entsteht in Berlin. Dort heißt es, China werde unterschätzt. Der Direktor sieht in dem aktuellen Beschluss des Zentralkomitees ein „historisches Dokument“.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Berlin - Sebastian Heilmann weiß sehr wohl, dass er Generationen von Bildungspolitikern und Abertausenden von Frankophilen ganz mächtig auf den Schlips tritt, wenn er dazu rät, künftig Chinesisch an Stelle von Französisch an deutschen Gymnasien zu unterrichten. Doch ein wenig Provokation muss nicht immer schädlich sein. Auch das weiß der Politikwissenschaftler und Sinologe, der zu einer Generation von jungen Professoren gehört, die sich nicht nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft verschanzen.

 

Das gilt im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Professur in Trier lässt Heilmann erst einmal ruhen. In Berlin ist er nun dabei, das nach eigenen Angaben europaweit größte Zentrum für chinabezogene Forschung aufzubauen. Zusammen mit einer Reihe von anerkannten Spezialisten und einem finanzstarken Sponsor. Die Mercator-Stiftung fördert das Projekt in den ersten fünf Jahren mit insgesamt 18,4 Millionen Euro. China bekomme nicht die Aufmerksamkeit, die es verdiene, und das gelte es nun zu ändern, sagt Heilmann.

Der Begriff think tank wird nicht verwendet

Den Terminus „think tank“ verwendet Heilmann nicht, wenn er über das neue Institut spricht, das in seiner Kurzform Merics heißt, was für Mercator Institute for China Studies steht. Vielleicht, weil die Mehrzahl der Denkfabriken in den USA zu Hause sind und dem Ostasienexperten die transatlantische Ausrichtung ohnehin zu ausgeprägt ist. China habe heute ein vergleichbares Gewicht wie die USA, aber die größere Dynamik als die Vereinigten Staaten, sagt der Institutsleiter. Ein Umdenken im Berliner Politikbetrieb hält er daher für ebenso notwendig wie an den Schulen des Landes.

In den Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt soll das neue Institut künftig das China von heute erforschen, bewerten und analysieren. Die Ergebnisse sollen Entscheidern und Interessierten gleichermaßen zugänglich gemacht werden. So wie eine lesenswerte Analyse des chinesischen Bloggerwesens, erstellt von der chinesischen Germanistin Zhu Yi und der deutschen Sinologin Kristin Shi-Kupfer. Sie beschreiben die feine Grenze, die besteht, wenn Unternehmer über Politik reden oder politisch handeln ebenso deutlich wie die Reaktionen der Regierung in Peking gegenüber Bloggern, die mehr Anhänger haben als manch eine Tageszeitung Auflage.

Die Platzhirsche sind gelassen

Von den bisherigen Platzhirschen auf dem Gebiet der politischen Analyse wird das neue Institut wohlwollend aufgenommen. Es handele sich um eine „überfällige Ergänzung der Wissenschaft“, sagt Patrick Köllner, der Direktor des Giga- Institut für Asien-Studien in Hamburg. „Wir freuen uns, weil das der Auseinandersetzung mit China neue Impulse gibt“. Auch Volker Perthes, der Direktor der ebenfalls in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik, sieht in dem neuen Institut „eine gute Ergänzung, die die außenpolitische Debatte belebt“. Einen nachteiligen Konkurrenzkampf befürchtet Perthes jedenfalls nicht: „Die großen Wirtschaftswissenschaftlichen Institute kommen in Deutschland auch gut nebeneinander klar“.

Gerade einmal 15 Prozent der Deutschen halten sich einer Studie nach für gut informiert, wenn es um das Thema China geht. Diese Zahl würde das neue Institut gerne steigern. „Oft werden nur die Horrorgeschichten präsentiert, wir wollen die Aufmerksamkeit auch auf die Entwicklungen lenken, die bisher kaum wahrgenommen wurden“, sagt Sebastian Heilmann. So entwickele sich China zu einer Pioniergesellschaft im Bereich E-Commerce mit noch ungeahnten Verschmelzungen von Werbung und sozialen Medien. Außerdem werde dort gerade „das Onlinebanking revolutioniert“.

Reform von historischem Ausmaß

Und natürlich gilt es zu kommentieren, was in China aktuell geschieht. „Die KP Chinas hat mit dem Beschluss der ZK-Tagung ein historisches Dokument vorgelegt“, sagt Heilmann zu den gestern bekannt gewordenen Papieren. „So umfassend, konkret und ambitioniert war bislang kein Parteibeschluss seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik 1978“.

Eine erste Analyse bringt Heilmann zu folgendem Ergebnis: „Die chinesische Führung bekennt sich einerseits zu mehr Markt, stärkt jedoch gleichzeitig die zentrale Bedeutung der Partei in der Wirtschaftspolitik. Die Reformansätze bieten für ausländische Investoren große Chancen.“ Trotz der Abschaffung der Umerziehungslager, einer Lockerung der Ein-Kind-Politik und anderer ermutigender Signale sei eine politische Liberalisierung aber nicht in Sicht. Im Gegenteil: „ Die Kontrolle des Internets soll weiter verstärkt werden.“