Fast vierzig Jahre nach Jimi Hendrix’ Tod erscheint das Album "Valleys of Neptune" mit zwölf bisher unveröffentlichten Songs..

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)
Stuttgart - Nach Gewicht oder Volumen gekennzeichnete Fertigpackungen gleicher Nennfüllmenge dürfen gewerbsmäßig nur in den Geltungsbereich dieser Verordnung verbracht werden, wenn die Füllmenge zum Zeitpunkt der Herstellung die festgelegten Werte für die Minusabweichung von der Nennfüllmenge nicht überschreitet", heißt es in der deutschen Fertigverpackungsverordnung. Nimmt man dieses griffig formulierte Dokument deutscher Artikulationskunst als Maßstab, ist eine Sache vordergründig klar: Bei Jimi Hendrix' neuem Album handelt es sich um eine Mogelpackung.

Von einer solchen sprechen Verbraucherschützer, wenn der tatsächliche Inhalt um mehr als dreißig Prozent unter dem vorgegaukelten liegt. Als sensationeller Coup, als "gewiss spektakulärster Fund der vergangenen Jahre" (so jubiliert die Plattenfirma Sony Music) mit über einer Stunde bisher unveröffentlichtem Material wurde das Album, das am Freitag erscheint, angepriesen; und dass vom besten Elektrogitarristen aller Zeiten, vom mythenumwehten Saitengenie, von einem der prägendsten Musiker der Rockhistorie bald vierzig Jahre nach seinem Tod noch einmal ein ganzes Stündchen frisches Material zu Ohren kommen sollte, das hat schon - hier trifft der Begriff in mehrfacher Hinsicht zu - elektrisiert.

Nun also liegen sie vor, die zwölf Songs mit (so weit also nicht geflunkert) exakt 62 Minuten und sechs Sekunden Spielzeit. Darunter sind "Red House" und das wohlbekannte "Fire" von Hendrix' Debütalbum "Are you experienced?" sowie "Stone free", die vermutlich bekannteste B-Seite der Welt, einst als zweite Rille auf der Debütsingle "Hey Joe" des Gitarrenmaestros veröffentlicht. Summa summarum sind das über 15 Minuten Spielzeit, womit volumenmäßig der Straftatbestand der Nennfüllmengenunterschreitung bei dieser Tonträgerverpackung fast schon erfüllt wäre. Rechnet man nun noch die Cream-Coverversion "Sunshine of your Love" sowie den nachgespielten Klassiker von Elmore James' "Bleeding Heart" hinzu und zieht obendrein ins Kalkül, dass das Stück "Hear my Train A'coming" von Hendrix auch schon - bekanntlich wohldokumentiert - in Woodstock gespielt wurde, verblieben gerade sechs Songs, die tatsächlich bisher ungehörte Eigenkompositionen sind.

Nun muss zwar ein Hendrix-Song nicht deshalb schlecht sein, weil er nicht aus Hendrix' Feder stammt - seine Coverversion von Bob Dylans "All along the Watchtower" ist der beste Beweis. Dennoch darf man fragen, warum diese CD ausgerechnet jetzt und - vor allen Dingen - warum sie erst jetzt veröffentlicht worden ist.

Der feine Unterschied


Zieht man dazu noch ins Kalkül, dass sich Sony ganz bewusst über die Aufnahmebedingungen ausschweigt, könnte man sogar ernsthaft verstimmt sein. Der Song "Valleys of Neptune", von dem hier gleich noch die Rede sein wird, "wurde für diese Veröffentlichung von Jimis langjährigem Toningenieur Eddie Kramer neu abgemischt", heißt es zum Beispiel im Begleittext lapidar (und vermutlich soll das sogar Ehrfurcht hervorrufen). Im Klartext heißt dies: es handelt sich also nicht um ein Remaster, sondern um eine Neuinterpretation; ob im oder wider den Geist Hendrix', bleibt unbeantwortet. Ebenso wie die Frage, ob das komplette Album nun tatsächlich digital gemastered oder remastered worden ist oder nicht. Die Höreindrücke lassen darauf schließen, dass keines der Stücke remastered worden ist, was insofern beruhigt, als dass die Tracks offenbar tatsächlich noch nie digital abgespeichert wurden. Das verwundert allerdings, mag man doch kaum glauben, dass die so erpicht das Erbe verwaltenden Nachlassverwalter sich nie digitale Sicherungskopien angefertigt haben. Zudem ist auf dem Album unüberhörbar, dass am Songmaterial - das immerhin vierzig Jahre alt ist und unüberhörbare Alterungsspuren aufweisen müsste - im Tonstudio nachträglich auf jeden Fall herumgetuscht worden sein muss.

Die drei altbekannten Titel seien "aufregende Neuarrangements der Songs", lässt Sony weiterhin behauten. Naja. Die Stehbluesnummer "Red House" ist und war nie sonderlich aufregend. "Stone free" präsentiert sich zwar in einer eindeutig besseren Aufnahmequalität, mit deutlich akzentuierterer Gitarre, ohne dass allerdings der bei Hendrix stets matschige Bass eliminiert worden wäre, ansonsten lediglich mit anderen Backing Vocals im Refrain, die laut CD-Booklet - tatsächlich! - von Roger Chapman gewohnt heiser beigesteuert werden. Und "Fire" fällt in erster Linie dadurch auf, dass es deutlich schneller als die Originalversion eingespielt wurde und Noel Redding in den Refrain hineinkräht.

Redding ist der Bassist, der nur in einer der beiden Bands spielte, die sich Hendrix als Begleiter hielt. Sein anderer Kumpel, der Schlagzeuger Mitch Mitchell, spielte sowohl in der Jimi Hendrix Experience wie auch in der Band of Gypsys mit. Weswegen, um nun endlich zu den Vorzügen zu kommen, dieses Album schon insoweit interessant ist, als dass es das editorische Vakuum vervollständigt, das zwischen den Aufnahmen zum letzten Hendrix-Studioalbum "Electric Ladyland" und der unvollständig gebliebenen, posthum erschienenen LP "First Rays of the new rising Sun" entstanden ist. Diese Tracks wurden größtenteils zwischen Februar und Mai 1969 aufgenommen, das Album dokumentiert die musikalische Schnittstelle, die sich durch den Personalwechsel künstlerisch manifestierte.

Making-of der Platte als Dreingabe


Redding spielt auf neun der zwölf Songs Bass, sein Nachfolger Billy Cox nur auf dreien. Darunter auf dem tatsächlich bisher unveröffentlichten "Valleys of Neptune", einem geheimnisumrankten Schlüsselsong, von dessen Existenz man schon lange wusste, der nun aber erstmals als Studioaufnahme zu hören ist. Aufgenommen wurde er an zwei Tagen im New Yorker Studio Record Plant, am 23. September 1969 sowie - vier Monate vor Hendrix' Tod - am 15. Mai. All dies erfährt man erst jetzt, und zwar aus den mustergültigen diskografischen und editorischen Angaben im Booklet. Diese Linernotes sind fast als die eigentliche Preziose dieses Albums zu bezeichnen. Auf zehn Textseiten, umrahmt von prachtvollen Fotos, schildert John McDermott, der vor vierzig Jahren gemeinsam mit Hendrix diese Aufnahmen produziert hat, in einem detaillierten, hochgradig spannenden musikzeitgeschichtlichen Dokument das Making-of dieser Stücke.

Fast, wie gesagt, wäre dies das Highlight. Denn jeweils gerade einmal ein Wimpernschlag vergeht, ehe man in "Valleys of Neptune" und den anderen unbekannten Stücken heraushört, wer hier Gitarre spielt. Lange kann man grübeln, ob einem irgend ein anderer Pop- oder Rockmusiker einfällt, dem man einen ebenso unikalen Stil attestieren könnte. Es fällt einem niemand ein. So konnte und kann auch vierzig Jahre nach seinem Tod das nur einer: der unvergleichliche Gitarrengott Jimi Hendrix, dem dieses ambivalente Album dann doch ein - vermutlich - letztes Denkmal setzt.