Unter den Obdachlosen New Yorks werden Homosexuelle am meisten diskriminiert. Eine Pfarrerin der evangelisch-lutherischen Gemeinde öffnet ihnen ihre Kirche.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)
New York - Hinter den Mauern der evangelisch-lutherischen Dreieinigkeitskirche ist Stille eingekehrt. Die Bibelgruppe hat aufgestuhlt, die Kaffeetassen stehen gespült im Regal. Allmählich verschwindet die Sonne hinter dem Gotteshaus in der Upper West Side, das eingezwängt zwischen Bürotürmen und einer Polizeistation liegt. Während nebenan noch Lichter brennen, scheint die kleine Gemeinde den Arbeitstag beendet zu haben, doch der Schein trügt. Gegen neun Uhr kreuzen sie auf. Rafael mit dem Killernieten-Halsband, der blondierte Claudio, Josephine, die einmal Joseph hieß, die schweigsame Ninoska, der geschwätzige Brant, Victor, Pablo und die anderen. Lachend spazieren sie herein, klatschen sich ab und werfen einander Kusshändchen zu. Kurz darauf klappert in der Küche das Geschirr, und aus dem Gemeindesaal dringen rhythmische Beats.

Jeden Abend verwandelt sich das Souterrain der Kirche in das Wohn- und Schlafzimmer einer Regenbogenfamilie. Ihre zehn Mitglieder sind zwischen 17 und 23 Jahre alt - und "schräg", wie Heidi Neumark über ihre Schützlinge zu sagen pflegt. Die 56-jährige Pfarrerin in Blumenrock und Trekkingsandalen kümmert sich um diejenigen, die in New Yorks Armenhaus den schwersten Stand haben: Obdachlose Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle. Sie werden häufiger als andere diskriminiert und missbraucht. Nicht einmal in gemeinnützigen Einrichtungen sind sie sicher. "Sie werden im Schlaf bepinkelt, getreten, geschlagen und das sogar in einem katholischen Männerwohnheim", weiß Neumark. Die Selbstmordrate unter ihnen ist alarmierend, ebenso der Anteil an HIV-Infizierten.

In New York, der vermeintlich liberalsten Stadt Amerikas, suchen sie Zuflucht. Mehrere Tausend sollen laut einer Schätzung der National Gay and Lesbian Task Force auf der Straße leben. Sie kommen aus Waisenhäusern, Pflegefamilien, Elternhäusern, in denen sie nicht länger erwünscht sind, aus Gegenden, wo Politiker Homosexualität eine "Gefahr der nationalen Sicherheit" nennen und christliche Eiferer Parolen predigen wie "Gott hasst alle Schwule". Die Zahl der Homophoben ist in den USA hoch. Die jüngste Umfrage des Meinungsinstituts Gallup ergab, dass nur jeder zweite Amerikaner homosexuelle Beziehungen für "moralisch akzeptabel" hält.

Es ist ein Schutzraum, kein Therapiezentrum


Über die Vergangenheit spricht keiner der Kirchenbewohner gern. Was zählt, ist die Gegenwart. Im Gemeindesaal steht das Essen bereit: Chili con Carne und Maiskuchen in Styroporschüsseln. Alle reden und löffeln gleichzeitig, fallen sich ständig ins Wort. Zu Tisch geht es vor allem um die weniger existenziellen Fragen des Lebens: Wie viel Fett benötigt eine gute Creme fraîche? Welche Musikvideos sind gerade angesagt. Nur auf Nachfrage fallen Nebensätze, die ahnen lassen, was die Jugendlichen durchgemacht haben.

Josephine sagt: "Meinem Vater gefiel es nicht, dass ich ein Mädchen sein wollte." Mit 13 Jahren musste sie in eine Pflegefamilie. Claudio erzählt, dass er im Bundesstaat Michigan von einem Waisenhaus zum nächsten gereicht wurde. "Keine gute Kindheit", sagt Jonathan und schweigt. In einem Lebenslauf, den er für ein Collegestipendium verfasst hat, steht: "Ich bin ein Meister der Meditation. Das habe ich durch meine Mutter gelernt, die mich in einem fort mit Flüchen und Gewalt einzuschüchtern versuchte."