Der Niedriglohnsektor ist nur in wenigen EU-Ländern so groß wie in Deutschland. Für die Betriebe ist das eine Hypothek, kommentiert StZ-Autor Michael Heller.

Stuttgart - In der Gesellschaft von Ländern wie Estland, Litauen und Lettland würde Deutschland wohl niemand vermuten, wenn es um das Thema Löhne geht. Aber die europäische Statistikbehörde Eurostat siedelt Deutschland hier an, obwohl die Verdienste in Euro und Cent hierzulande natürlich deutlich höher sind als zum Beispiel im Baltikum. Die Niedriglohnquoten von Ländern miteinander zu vergleichen, bei denen die Verdienste deutlich unterschiedlich sind, führt aber nicht sehr weit.

 

Wirtschaft hat in hohem Maße profitiert

Die Quote selbst sagt jedoch über die Zustände in einem Land durchaus etwas aus, selbst wenn nicht jeder Niedriglöhner von Armut bedroht ist. Aber dass fast jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland deutlich nach unten vom mittleren Stundenverdienst abweicht, ist schon bemerkenswert. Gründe dafür gibt es genug, von der abnehmenden Tarifbindung bis zur Schaffung eines großen Bereichs atypischer Beschäftigungsverhältnisse, nicht zuletzt im Zuge der Agenda-2010-Reformen. Davon hat die Wirtschaft in hohem Maße profitiert, konnte ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und begünstigt durch den niedrigen Eurokurs weltweit Marktanteile gewinnen. Ein Niedriglohnbereich wurde geschaffen, den es zu Beginn des Jahrtausends noch nicht gegeben hatte.

Natürlich gibt es Menschen, die mit einfachsten und deshalb schlecht bezahlten Arbeiten zufrieden sind. Das war schon immer so. Aber der Niedriglohnsektor ist viel zu groß. Das ist kein Modell für ein hochentwickeltes Industrieland. Die Unternehmen tun sich keinen Gefallen, wenn sie ihre Belegschaft nur als Kostenfaktor betrachten. Die Zukunft wird – Stichwort Digitalisierung – große Herausforderungen bringen. Am leichtesten zu meistern sind sie mit motivierten, gut ausgebildeten Beschäftigten, die einen sicheren und ordentlich bezahlten Arbeitsplatz haben.