Für Blinde mit weiteren Handicaps ist Struktur im Alltag wichtig. Hilfe gibt es in speziellen Wohngruppen.

Stuttgart-Feuerbach - Facebook – wenn Daniel das Wort hört, wippt er aufgeregt mit dem Oberkörper hin und her. Nichts wünscht er sich lieber als ein Profil bei dem sozialen Netzwerk. „Dann kann ich die ganze Nacht über chatten“, sagt er und lacht.

 

Daniel ist 22 Jahre alt und von Geburt an blind. Er leidet unter mehrfachen zusätzlichen Einschränkungen, hat eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Gemeinsam mit sechs Erwachsenen, die ebenfalls an Sehbehinderung und weiteren Handicaps leiden, wohnt er in einer Spezialeinrichtung der Nikolauspflege an der Maybachstraße. Sabine Engel und ihr Team betreuen dort Menschen, die wegen ihrer Behinderung nicht in Werkstätten arbeiten können. „Es ist wichtig, dass diese Erwachsenen feste Tageseinheiten erleben. Deshalb strukturieren wir ihren Alltag mit kleinen Aufgaben und Spielen“, sagt Engel, Fachleiterin der Einrichtung.

Jeden Morgen nach dem Frühstück treffen sich Daniel, seine Mitbewohner und die Betreuer zur Musikrunde. Aus Rollstühlen und Sofas bilden sie einen Kreis; jeder darf mit einer Rassel oder Trommel in der Hand das Begrüßungslied begleiten und mitsingen. Einige schreien und lachen, andere summen mit geschlossenen Augen oder bewegen ganz langsam die Rassel in ihrer Hand. „Wir sind froh, wir sind froh! Daniel, du bist da!“

Beim Umzug hat das Team das meiste selbst organisiert

Daniel grinst und wippt mit dem Oberkörper. Besonders das sogenannte Einzählen macht allen großen Spaß. „Herr D., wir haben Sie noch nicht begrüßt, möchten Sie einzählen?“ Herr D., der seinen Namen nicht nennen möchte, sieht ein bisschen aus wie ein Professor. Er trägt einen langen grauen Bart und eine Lesebrille, obwohl er kaum etwas zu sehen scheint. Als er nach dem Einzählen gefragt wird, hebt er die Hand und schreit mit Blick zur Decke: „Eins, zwei und drei!“ Die Betreuer fangen an zu singen, Daniel summt, Herr D. schüttelt energisch seine Rassel.

Seit Juni 2011 ist die Nikolauspflege an der Maybachstraße eingezogen. „Das hier soll nur eine Übergangslösung bis 2014 sein. Bald werden mehr Leute nach Stuttgart verlegt. Unser Platz wird dann zu eng. Wir ziehen deshalb vermutlich nach Stammheim um, wo eine Einrichtung gebaut werden soll“, sagt Sabine Engel. Beim Umzug an die Maybachstraße haben Engel und ihr Team das meiste selbst organisiert. „Wir sind oft mit unseren eigenen Wagen zum Möbelhaus gefahren, mussten tagelang Kisten schleppen.“ Die Mühe habe sich aber gelohnt: „Unseren Klienten nehmen das betreute Wohnen ganz toll auf.“ Daniels Mutter hat ihre Begeisterung über die Einrichtung in einem offenen Brief ausgedrückt: „Danke, dass Daniel wieder lacht und singt und fröhlich ist, dass er nicht überredet werden muss, Montag wieder ‚dort hinzugehen‘, sondern dass er sich freut. Es ist eine Stimmung und Atmosphäre in den Räumen, die gut tut.“

Klare Grenzen und eine intensive Betreuung

Ungleich der meisten seiner Mitbewohner sitzt Daniel nicht im Rollstuhl. Er kann deshalb den Betreuern bei kleinen Aufgaben helfen: So trägt er die Wäschekörbe durch die Gänge, geht mit einkaufen oder bringt die Post weg. Zuvor war er in einer Werkstatt der Nikolauspflege in Welzheim. Aber das habe nicht gut funktioniert. „Jemand wie Daniel braucht klare Grenzen und eine intensive Betreuung. In unseren Blinden-Werkstätten gibt es wenige Mitarbeiter, die sich um viele Klienten kümmern. Hier dagegen können wir auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen eingehen“, sagt Sabine Engel.

Daniel erinnert sich nicht mehr daran, wie es ihm in der Werkstatt in Welzheim gefallen hat. „Nee, weiß ich jetzt nicht mehr. Holen wir uns eine Flatrate, mein Guter. Eine SMS-Flatrate. Dann können wir die ganze Nacht über chatten“, sagt er, lacht und springt aufgeregt den Flur entlang.

Im Förder- und Betreuungsbereich der Wohngruppe darf Daniel malen. Lange und kurze Striche, Wellenlinien, Punkte. Immer wieder wechselt Daniel die Farbe, aber weil er von Geburt an blind ist, kann er sich Farben nicht vorstellen. „Ich hab’ keine Ahnung, ich nehme einfach immer einen anderen Stift. Schöne Kunst“, sagt er.

Jeder Tag ist gleich strukturiert

Daniel malt jeden Tag neue Striche. Herr D. dagegen wird von einer Betreuerin in einem Quiz regelmäßig auf sein Allgemeinwissen getestet: „Wie viel Gramm hat ein Kilogramm?“ Herr D. runzelt die Stirn und rückt seine Brille zurecht. „Warten Sie, warten Sie, das weiß ich! Das sind . . . 1000 Gramm“, sagt er und jubelt, als er hört, dass er richtig liegt: „Sie können mich alles fragen, ich bin sehr gebildet.“ Sein Mitbewohner Florian sitzt vom Frühstück bis zum Mittagessen vor dem Radio auf einem Gymnastikball und hüpft auf und ab.

Nachmittags gehen die Betreuer mit den Erwachsenen auf Spaziergänge oder Ausflüge. Jeder Tag ist gleich strukturiert. „Auch wenn die Menschen bei uns keiner richtigen Arbeit nachgehen können, möchten wir trotzdem, dass sie fühlen, dass sie eine Aufgabe haben“, sagt Engel. Das strukturiere nicht nur den Alltag. Die Erwachsenen erlebten auch das wichtige Gefühl, gebraucht zu werden.

„Ab morgen habe ich vier Wochen Ferien“, sagt Daniel. „Da bin ich dann zuhause bei meinen Eltern, und chill’ mal. Da hol ich mir ein Facebook-Profil.“ Auch die meisten Mitbewohner von Daniel sind während des Urlaubs bei ihren Familien. Danach kommen sie zurück an die Maybachstraße; dann beginnt das tägliche Malen, Singen und Rasseln von vorne.