Haben sich die Ermittler der NSU-Morde von klischeehaften Vorurteilen gegen Migranten leiten lassen? Diese Vermutung äußert Semiya Simsek, deren Vater vor 13 Jahren erschossen wurde, in ihrem Buch. Am Freitag wird es in Berlin vorgestellt.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

Stuttgart - Für Semiya Simsek ist ihr Vater kein Zufallsopfer. Am 9. September 2000 wurde Enver Simsek an einer Ausfallstraße im Osten von Nürnberg niedergeschossen. Er hatte dort seinen Blumenstand aufgebaut, wartete auf Kundschaft und traf auf seine Mörder. Es war ein Hinrichtungsszenario, der 39-Jährige erlag am nächsten Tag seinen Verletzungen. Simsek war das erste Opfer in der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), die neun Menschenleben forderte und 2006 so plötzlich endete, wie sie begonnen hatte. Für die trauernde Familie begann ein Martyrium.

 

Über Jahre hinweg durchpflügten die Ermittler das Privatleben der Simseks, streuten Zweifel, nährten Gerüchte. Hartnäckig hielt sich unter den Beamten die These, Enver S imsek habe nur zur Tarnung mit Blumen, in Wirklichkeit aber mit Drogen gehandelt. Eine andere Theorie nahm Simseks Frau ins Visier: Sie habe ihren Mann aus Eifersucht erschossen. Die Ermittler investierten viel Zeit in die Simseks, doch als im November 2011 die Wahrheit ans Licht kam, erfuhr die Familie davon aus dem Fernsehen.

Tendenziöse Ermittler

Alte Wunden brachen auf. Andererseits war Semiya Simsek froh, dass die Verdächtigungen ein Ende hatten. Nun wollte die 26-Jährige, dass die Welt auch erfährt, wie ihre Familie von tendenziösen Ermittlern drangsaliert worden war: Gemeinsam mit dem Journalisten Peter Schwarz schrieb sie „Schmerzliche Heimat – Deutschland und der Mord an meinem Vater“. Im Buch stellt sie ihren Vater vor, der 1986 als Fremder nach Deutschland kam, weder die Sprache beherrschte noch einen Beruf hatte. Aber Enver Simsek verstand es offenbar, diese Defizite mit Mut, Fleiß und Grips wettzumachen: Er zog einen lukrativen Blumengroßhandel hoch. Seine Kinder gingen aufs Gymnasium und studierten.

Semiya Simsek porträtiert ihre Familie als Mustermigranten, die sich in Deutschland heimisch fühlten und ihre türkischen Wurzeln pflegten. Genau darin erblickt die Autorin das Motiv für die Morde. Die Terroristen, sagt die Sozialpädagogin, hätten es auf Migranten abgesehen, „die mit der Art, wie sie lebten, den Beweis antraten: Deutschland ist eine bunte Republik“. Die Botschaft der Mörder, sagt sie im Gespräch, sei für sie glasklar: „Fühlt euch hier bloß nicht zu sicher!“

Waren die Beamten also betriebsblind?

Dass die Taten auf das Konto von Rechtsextremen gehen könnten, hatten die Simseks und andere Opferfamilien längst gemutmaßt und ihren Verdacht mehrfach gegenüber der Polizei geäußert. 2006 organisierten die Hinterbliebenen in Kassel sogar eine Demo. Doch den Ermittlern erschien diese Spur abwegig. Terroristen, so erklärten sie, würden sich üblicherweise zu ihren Taten bekennen. Experten behaupten jedoch das Gegenteil. Fabian Virchow etwa, Leiter der Forschungsstelle Rechtsextremismus an der Fachhochschule Düsseldorf, hat Fälle aus den Jahren von 1989 bis 2011 untersucht: Nie verfassten die Rechten Bekennerschreiben.

Waren die Beamten also betriebsblind? „Angesichts der Entschiedenheit, mit der die Ermittler in die falsche Richtung starrten, nagt in mir das Misstrauen, ob einzelne Beamte die Ermittlungen nicht sogar bewusst in verkehrte Bahnen lenkten“, schreibt Simsek. Mit dieser Vermutung steht sie nicht allein. Immerhin befasst sich derzeit der NSU-Untersuchungsausschuss auch mit der Frage, welche Rolle Vorurteile gegen Migranten bei den Ermittlungsfehlern spielten.

Türkische Medien nehmen kaum Notiz

Eine große Hilfe seien übrigens auch die türkischen Kollegen nicht gewesen, an die sich die deutsche Polizei gewandt hatte, heißt es im Buch. Sie seien zwar auf den rechtsextremen Trichter gekommen, hätten ihn aber falsch herum gehalten: Ihre These lautete, dass Enver Simsek mit den militant-nationalistischen Grauen Wölfen verbandelt gewesen sei. In der ganzen NSU-Sache habe sich die Türkei nicht mit Ruhm bekleckert, sagt der Journalist Fatih Demirtas. Er ist Chefredakteur des „Ekspres“ in Sarkikaraagac, einer Stadt unweit des Dorfs Salur, von wo aus Enver Simsek 1986 aufgebrochen ist. Vor dem November 2011 habe man in den türkischen Medien kaum Notiz genommen von den Morden an Landsleuten. Danach habe man versucht, daraus politischen Profit zu schlagen. Politiker hätten sich mit Krokodilstränen hinter die Opferfamilien gestellt. „Man hat lautstark einen Untersuchungsausschuss eingerichtet, von dem man dann nie wieder etwas gehört hat.“ Es schwinge, so Demirtas, viel Häme mit, wenn von den Ermittlungsfehlern die Rede sei. „Nach dem Motto: Bei euch ist es auch nicht besser als bei uns.“

Semiya Simsek ist sich darin auch nicht mehr so sicher wie früher. „Aber ich gebe meiner Heimat Deutschland noch eine Chance, sollten im Prozess meine Erwartungen an die Aufklärung erfüllt werden.“ In dem NSU-Mordprozess, der im April in München vor dem Oberlandesgericht beginnt, stehen die mutmaßliche Neonaziterroristin Beate Zschäpe sowie vier mutmaßliche Helfer des NSU vor Gericht.