Unter großem Andrang und höchsten Sicherheitsvorkehrungen hat in München der NSU-Prozess begonnen – und ist gleich für mehrere Tage unterbrochen worden. Für die Opfer ist das schwer auszuhalten.

München - Die deutsche Justiz hat über die Jahrhunderte hinweg viele Stile entwickelt, um ihre Bedeutung zu demonstrieren. Der größte, aber eben viel zu kleine Saal 101 des Strafjustizzentrums in München mit seiner fensterlosen Brutalo-Architektur der siebziger Jahre stammt aus der Zeit, da diese Versuche der Machtdemonstration besonders hässlich ausfielen: Man hat immer Angst, dass die großen, eierschalenfarbenen Brocken, die von der Decke hängen und hinter denen sich die völlig unzulängliche Klimaanlage verbirgt, all den Prozessbeteiligten irgendwann einmal auf die Köpfe fallen.

 

Lange bevor die Prozessbeteiligten sich versammelt haben und die Richter erscheinen, ist die Luft im Saal zum Schneiden. Kein Wunder: die Tische und Stühle in dem Raum sind aufs Engste zusammengeschoben. Der eine stolpert über die Aktentasche des Nachbarn und viele Nebenkläger müssen sich durch einen schmalen Spalt klemmen, um an ihre Plätze zu kommen. So erscheint es fast schon vernünftig, dass auch noch die vielköpfige „Ambulanz Aicher“ mit ihren neonbunten Warnwesten, mit Notfallkoffern und Defibrillatoren anrückt – und so neue Stolperschwellen schafft.

Selbstbewusst und im Hosenanzug: Beate Zschäpe

Eine halbe Stunde vor dem angesetzten Termin betritt Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte, durchaus selbstbewusst den Raum. Von ihren Hand- und Fußfesseln ist sie bereits befreit. Sie trägt einen schwarzen Hosenanzug und würde auf der Straße trotz ihres blassen Gesichts als eine adrette Vertreterin der besseren Stände durchgehen. Den Fotografen zeigt sie ihre Rückseite. Später wird sie häufiger lächeln, entspannt, manchmal beinahe fröhlich wirken. Die Körpersprache ist lebhaft.

Zschäpe wird von der Bundesanwaltschaft vorgeworfen, in den Jahren zwischen 2000 und 2007 als Täterin an den zehn Morden der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) beteiligt gewesen zu sein. Außerdem habe sie an den beiden Sprengstoffanschlägen in Köln 2001 und 2004 mitgewirkt, die rechtlich als Mordversuche gewertet werden. Schließlich sind sich die Ankläger sicher, dass Zschäpe 2011 die Unterkunft der Terrorgruppe in Zwickau in Brand gesteckt hat. Auch dies wird, weil sich eine Nachbarin im Haus befunden hat, als Mordversuch gewertet. Zschäpe soll des Weiteren Gründungsmitglied des NSU gewesen sein, der neben ihr auch die beiden Haupttäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhadt angehört hatten. Beide haben sich 2011 selbst umgebracht.

Das Gegenbild der Hauptangeklagten

Nach Zschäpe kommt André E. in den Raum, das Gegenbild der Hauptangeklagten: wohlbeleibt, im karierten Holzfällerhemd, Tätowierungen auf den Fingern, grobschrötig eben. Er blickt den Fotografen halb trotzig entgegen.

André E. wirft die Bundesanwaltschaft Beihilfe zu einem der Kölner Sprengstoffanschläge, Beihilfe zum Raub und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vor. Er soll unter anderem die Tatfahrzeuge für den Anschlag im Jahre 2001 und für zwei Raubüberfälle angemietet haben.

Ralf Wohlleben, der frühere NPD-Funktionär, ist der Dritte, der kommt. Der hagere Mann hat viel von seiner früheren Auffälligkeit verloren. Er hat wenig Szenetypisches mehr an sich. Die Haare sind kurz, aber nicht ostentativ kurz, die Kleidung bürgerlich mit leicht rustikalem Anklang.

Ralf Wohlleben ist wegen Beihilfe zu den neun Morden an den türkisch- und griechischstämmigen Opfern angeklagt. Er soll dem NSU-Trio die bei diesen Morden benutzte Tatwaffe, eine Ceska 83 nebst Schalldämpfer, besorgt haben.

Ein unauffälliger Mann bürgerlichen Zuschnitts

Carsten S. versteckt sich die erste Zeit, solange die Fotografen da sind, tief unter der überdimensionalen Kapuze seiner Jacke. Das macht seinen Eindruck nicht besser. Später kommt auch hier ein unauffälliger Mann bürgerlichen Zuschnitts zu Tage.

Carsten S. ist wegen Beihilfe an den neun Morden angeklagt. Er soll gemeinsam mit Wohlleben die Waffe besorgt haben.

Was für Carsten S. die Kapuze ist für Holger G. ein Aktendeckel, hinter dem er sich wegduckt und verzweifelt zu verbergen versucht. Dabei würde auch er in seiner blauen Jacke und Jeans draußen wohl niemandem auffallen.

Holger G. wird die Unterstützung der NSU angelastet. Er soll den drei Mitgliedern der Terrorgruppe geholfen haben, ihre Identität zu verschleiern, und ihnen dafür seine Ausweispapiere zur Verfügung gestellt haben.

Der Richter schickt die Fotografen raus

„So, dann würde ich Sie bitten, den Saal zu verlassen.“ Das sind die ersten Worte, die Manfred Götzl 20 Minuten nach dem für zehn Uhr geplanten Prozessbeginn spricht – an die Adresse der Fotografen. Er ist heute liebenswürdig, geduldig, er moderiert. „Nur mit der Ruhe“, sagt er in Richtung auf einen Verteidiger, der es nicht erwarten kann, seinen Antrag vorzutragen. Das dauert noch.

Eine halbe Stunde lang trägt Götzl erst einmal all die Namen der Prozessbeteiligten vor, prüft nach, wer da ist. Die elf Verteidiger sind natürlich da, von der Bundesanwaltschaft sind es heute vier Vertreter. Von den Nebenklägern sind dagegen weniger erschienen als erwartet. Viele der 77 Nebenkläger haben ihre Anwälte geschickt.

Statt einem Feuerwerk an Anträgen folgt Langeweile

Und dann beginnt das Finassieren. In Aussicht stand ein ganzes „Feuerwerk von Anträgen“, ganz normal bei solchen Prozessen. Da geht es dann nicht um die Vorwürfe der Anklageschrift, die wohl noch eine ganze Weile lang nicht vorgetragen werden kann. Da geht es um mögliche kleine Fehler, die dem Gericht unterlaufen sein könnten und deshalb später einen Revisionsgrund liefern könnten. Kein professioneller Anwalt wird versäumen, diese so minimalen Chancen zu nutzen.

Doch statt des Feuerwerks entfalteten die Verteidiger Zschäpes im Gerichtssaal in den nächsten 45 Minuten lähmende Langeweile. Richter Götzl, der ein Fuchs sein kann, hat dafür gesorgt. Behaupte niemand mehr, er könne öffentliche Wirkungen nicht einschätzen.

Die Anwälte hatten nämlich ihren so umständlichen Befangenheitsantrag gegen Götzl bereits am Samstag per Fax dem Gericht übermittelt. Dann muss er in der Hauptverhandlung nicht vorgetragen werden und niemand würde merken, dass der Umfang in einem reziprok proportionalen Verhältnis zum Inhalt steht. Aber er würde gerade deshalb Wirkung entfalten. Götzl bittet Zschäpe-Verteidiger Wolfgang Stahl aber liebenswürdig, den Antrag doch vorzulesen. Stahl ist darauf nicht vorbereitet, er hat den Antrag nicht einmal ausgedruckt dabei. Götzl stellt ihm freundlicherweise sein Exemplar zur Verfügung. Der Anwalt ist erkennbar verärgert, meint, er sei „naiv“ gewesen.

Warum der Verteidiger unbedingt in ein teures Hotel will

Und dann liest er endlos und endlos langsam, man möchte ihm die Worte aus dem Mund ziehen, vor, was auch in zehn Sätzen zu sagen gewesen wäre. Götzl sei gegenüber Zschäpe befangen, weil deren Verteidiger, aber nicht die Bundesanwälte vor Beginn der mündlichen Verhandlung durchsucht werden. Götzl begründete dies mit der Gefahr möglicher Anschläge.

Man kann darüber streiten, ob das vernünftig war. Man kann auch darüber streiten, inwieweit die Sicherungsverfügung eines Vorsitzenden Richters, die Anwälte betrifft, auf dessen Befangenheit gegenüber der Angeklagten selbst schließen lassen. Aber darum geht es gar nicht mehr. Aufhorchen tun die Zuhörer erst wieder, als der arme Verteidiger auch noch vortragen muss, dass er die Unterbringung in höherpreisigen Hotels erbeten hatte – mit der Begründung nur dort nach eingegangenen Todesdrohungen sicherer zu sein. Es ist ätzend. Götzl wusste schon, weshalb er das vortragen lässt.

So kommt, was kommen muss: Die Anwälte der Nebenkläger beklagen die vermeintliche Prozessverzögerung, durch die die Opfer „gequält“ würden, sprechen von „verletzten Eitelkeiten der Verteidiger“, die kein Grund für einen Befangenheitsantrag seien. Zschäpes Verteidiger poltern zurück. Götzl kann sich zurücklehnen und zuhören. Dann geht man erst einmal in die Mittagspause, damit die aufgebrachten Gemüter sich wieder beruhigen.

Bis weit in den Nachmittag hinein geht das Hickhack dann weiter: Beanstandungen, Pausen, abweisende Gerichtsbeschlüsse und ein ausufernder Ablehnungsantrag, diesmal von Wohlleben. Nach einer Stunde unterbricht Götzl den Verteidiger und weist einen Nebenkläger zurecht: „Dass Sie hier jetzt Zeitung lesen, ist nicht möglich.“ Zeitung lesen ist das Vernünftigste, was man zu dieser Zeit tun kann.

Am späten Nachmittag kommt das, was so mancher schon befürchtet hat. Der Prozess wird gleich wieder unterbrochen, erst am 14. Mai soll es weitergehen, kündigt Richter Götzl an – wegen der nötigen Entscheidung über Befangenheitsanträge.