Schirin Kretschmann macht mit ihrer Arbeit „True Blue“ den Fußboden im Kunstverein zur Leinwand.

Nürtingen - Man muss schon genauer hinschauen. Die pudrige Gipspigmentmischung, die Schirin Kretschmann auf den Fußboden beim Kunstverein Nürtingen aufgetragen hat, entpuppt sich auf den zweiten Blick betrachtet eben nicht als glatte Fläche. Es gibt Unregelmäßigkeiten, Vertiefungen und Kanten, welche die frühere industrielle Nutzung des Gebäudes erkennen lassen.

 

Fliegen sorgen auf dem Boden für eine Binnenzeichnung

Da sind Flecken und Linien, die sich als von Fliegen hinterlassene Spuren herausstellen. Schirin Kretschmann spielt bei ihrem im Stil der Minimal Art gehaltenen Werk „True Blue“ ganz bewusst mit dem Zufall. „Der geometrischen und monochromen Strenge steht die Verletzlichkeit der pudrigen Gipspigmentmischung entgegen, sodass die Kombination aus minimalistischem Eingriff und Materialwahl ,True Blue‘ zur Leinwand des Raumes werden lässt. Die Intervention macht also den Raum als solchen zum Thema“, erklärte die Kunsthistorikerin Carolin Wurzbacher jetzt bei der Einführung in die Ausstellung.

Mit ihrer großflächigen Bodenarbeit, die durch äußere Einflüsse zu einer sich nach und nach weiter verändernden Binnenzeichnung wird, spielt Schirin Kretschmann mit der Wahrnehmung der Raumsituation in der Ausstellungshalle. Die Künstlerin hat bereits zahlreiche Arbeiten für den öffentlichen Raum sowie für internationale Galerien entwickelt, etwa für das Kunstmuseum Stuttgart oder das Kunsthaus Baselland. Schon mit ihrer Intervention „Michael Jackson“ vor einigen Jahren in der Karlsruher Galerie Ferenbalm-Gurbrü Station modifizierte Schirin Kretschmann mit schwarzer Bauplane den Eindruck des bestehenden Raumgefüges. Beide Werke „True Blue“ und „Michael Jackson“ verbindet ein für das Œuvre der Wahlberlinerin charakteristisches Element: „In ihnen schwingt eine Ironie, die die konzeptionell durchdachten Arbeiten Kretschmanns in ihrer Leichtigkeit unterstreichen“, erläuterte Carolin Wurzbacher. Nicht von ungefähr ist der Titel „True Blue“ an den gleichnamigen Popsong angelehnt, in dem Madonna vor nunmehr 30 Jahren ihre große Liebe zu ihrem damaligen Ehemann Sean Penn besang. Zerbrechlichkeit, Heiterkeit und Unbeschwertheit – was wie ein Gegensatz klingt, ist bei Schirin Kretschmanns „True Blue“ Teil des Konzepts.

Im Spannungsfeld von Industrie und Kunst

Der besondere Reiz dieses Kunstwerks liegt für Carolin Wurzbacher nicht zuletzt in dessen Reduktion durch die Künstlerin. Indem das Werk durch Fliegen, Raumfeuchtigkeit und andere Faktoren seinen Aggregatzustand mit zunehmender Ausstellungsdauer immer weiter verändert, wachse auch sein „narratives Potenzial“. Dass Schirin Kretschmann Gipspigmentpuder als Material gewählt hat, ist beabsichtigt, wurde dieses Pigment doch üblicherweise in der Industrie zur Beschichtung von Metallen verwendet. „Sie bespielt den Nürtinger Kunstverein, der selbst wie eine Intervention in die industrielle Nutzungsstruktur dieses Stadtquartiers eingreift, mit einer zweiten, künstlerischen Intervention“, sagte Carolin Wurzbacher am Ende ihrer Einführungsrede.