Sein Wirtschaftsminister etwa hatte zusammen mit dem französischen Kollegen dafür gesorgt, dass die in den 17 EU-Staaten geltenden Grenzwerte für CO2-Emissionen sowohl für Neuwagen wie für Industrieanlagen Jahr um Jahr angehoben wurden. Eine industriepolitische Maßnahme, die sich vor allem im deutschen Südwesten bei jeder Wahl erneut auszahlte. Wenn die Grünen versuchten, dagegen aufzumucken, hatte die Regierungspartei immer einen guten Spruch parat: „Geht doch nach drüben, wenn es euch hier nicht passt!“ Da sei zu besichtigen, wohin sozialistische Misswirtschaft ein Staatsgebilde führe: keine Industrie mehr und trotzdem dreckige Luft. Die Familienministerin, einzige Frau in der Bundesregierung, hatte es nicht leicht, sich zu behaupten. Weniger Bedeutung als sie hatte nur ihr Kollege vom Verteidigungsressort. Die Bundeswehr tat sich hervor bei humanitären Einsätzen im Inland und als Beschäftigungsmaßnahme für junge Männer, die mit der Wehrpflicht schon mal für zwei Jahre von der Straße weg waren.

 

Wie gut, dachte Julia S., dass in diesem Land die Frauen nicht so auf den Arbeitsmarkt drängten. Man stelle sich vor, die Mädchen wollten auch noch alle in ihrem erlernten Beruf arbeiten, und das womöglich Vollzeit! Aber das war ja eh ausgeschlossen. Wer sollte sich denn um die Kinder kümmern? Immerhin hatte besagte Familienministerin mit Betreuungsgeld und Mütterrente die richtigen Anreize gesetzt. Nicht so, wie die Regierungen in Frankreich oder in Skandinavien, wo die erwerbstätigen Frauen schon ihre Babys von wildfremden Leuten aufbewahren ließen. Ganz zu schweigen von drüben . . .

Sie griff in ihre Tasche und zog die Stuttgarter Zeitung heraus, die sie in einer Mischung aus Heimweh und Freude über den geglückten Grenzübertritt schon beim Umsteigen am Frankfurter Hauptbahnhof gekauft hatte. In der Samstagsausgabe berichteten die Hauptstadt-Korrespondenten aus Bonn ausführlich vom Besuch des US-Präsidenten in der Bundesrepublik.

Jubel auf dem Bonner Marktplatz

Der First Lady, war zu erfahren, hatte besonders der Eifelblick vom Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg aus gefallen. In die begeistert jubelnde Menschenmenge auf dem Bonner Marktplatz hatten sich vereinzelte Demonstranten gemischt, die den Abzug der strategischen Atomwaffen aus Deutschland forderten. Für den Abend war ein Schiffskonvoi auf dem Rhein geplant, weshalb seit dem Vortag die Bundesstraßen auf beiden Seiten des Flusses gesperrt waren und die Anwohner zwischen Bad Godesberg und Niederdollendorf ihre rheinseitigen Fenster nicht mehr öffnen durften. „Angesichts des Risses, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die freie Welt vom Ostblock trennt“, erläuterte der Leitartikel, „steigt die Gefahr terroristischer Angriffe östlicher Geheimdienste.“

Julia S. schüttelte den Kopf. Diese Gefahr stieg und stieg – und war schon je etwas passiert? Sie blätterte weiter zur Wochenendbeilage. Auf der ersten Seite, der „Brücke zur Welt“, fand sie einen Artikel, der ausfabulierte, was aus Deutschland geworden wäre, wenn die Aufstände damals Erfolg gehabt und die Wiedervereinigung herbeigeführt hätten. „Die Sporen sozialistischer Gleichmacherei hätten sich in ganz Westeuropa verbreitet.“

Draußen vor den Fenstern der Stadtbahn sausten blumenampelgeschmückte Laternenmasten mit Wahlplakaten vorbei. Sie zeigten die wohlbekannten ernsten Züge des langjährigen Regierungschefs. Seit der schweren Rezession Anfang der Neunziger hielt er sich im Sattel. Mit Konjunkturprogrammen und Subventionsabbau hatte er die Republik durch diese mageren Zeiten geführt. Heute war er ein alter Mann, aber er hatte noch immer ein Gespür, welche jüngeren Männer auf welchen Kabinettsposten Segensreiches bewirken würden.

„Geht doch nach drüben!“

Sein Wirtschaftsminister etwa hatte zusammen mit dem französischen Kollegen dafür gesorgt, dass die in den 17 EU-Staaten geltenden Grenzwerte für CO2-Emissionen sowohl für Neuwagen wie für Industrieanlagen Jahr um Jahr angehoben wurden. Eine industriepolitische Maßnahme, die sich vor allem im deutschen Südwesten bei jeder Wahl erneut auszahlte. Wenn die Grünen versuchten, dagegen aufzumucken, hatte die Regierungspartei immer einen guten Spruch parat: „Geht doch nach drüben, wenn es euch hier nicht passt!“ Da sei zu besichtigen, wohin sozialistische Misswirtschaft ein Staatsgebilde führe: keine Industrie mehr und trotzdem dreckige Luft. Die Familienministerin, einzige Frau in der Bundesregierung, hatte es nicht leicht, sich zu behaupten. Weniger Bedeutung als sie hatte nur ihr Kollege vom Verteidigungsressort. Die Bundeswehr tat sich hervor bei humanitären Einsätzen im Inland und als Beschäftigungsmaßnahme für junge Männer, die mit der Wehrpflicht schon mal für zwei Jahre von der Straße weg waren.

Wie gut, dachte Julia S., dass in diesem Land die Frauen nicht so auf den Arbeitsmarkt drängten. Man stelle sich vor, die Mädchen wollten auch noch alle in ihrem erlernten Beruf arbeiten, und das womöglich Vollzeit! Aber das war ja eh ausgeschlossen. Wer sollte sich denn um die Kinder kümmern? Immerhin hatte besagte Familienministerin mit Betreuungsgeld und Mütterrente die richtigen Anreize gesetzt. Nicht so, wie die Regierungen in Frankreich oder in Skandinavien, wo die erwerbstätigen Frauen schon ihre Babys von wildfremden Leuten aufbewahren ließen. Ganz zu schweigen von drüben . . .

Sie griff in ihre Tasche und zog die Stuttgarter Zeitung heraus, die sie in einer Mischung aus Heimweh und Freude über den geglückten Grenzübertritt schon beim Umsteigen am Frankfurter Hauptbahnhof gekauft hatte. In der Samstagsausgabe berichteten die Hauptstadt-Korrespondenten aus Bonn ausführlich vom Besuch des US-Präsidenten in der Bundesrepublik.

Jubel auf dem Bonner Marktplatz

Der First Lady, war zu erfahren, hatte besonders der Eifelblick vom Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg aus gefallen. In die begeistert jubelnde Menschenmenge auf dem Bonner Marktplatz hatten sich vereinzelte Demonstranten gemischt, die den Abzug der strategischen Atomwaffen aus Deutschland forderten. Für den Abend war ein Schiffskonvoi auf dem Rhein geplant, weshalb seit dem Vortag die Bundesstraßen auf beiden Seiten des Flusses gesperrt waren und die Anwohner zwischen Bad Godesberg und Niederdollendorf ihre rheinseitigen Fenster nicht mehr öffnen durften. „Angesichts des Risses, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die freie Welt vom Ostblock trennt“, erläuterte der Leitartikel, „steigt die Gefahr terroristischer Angriffe östlicher Geheimdienste.“

Julia S. schüttelte den Kopf. Diese Gefahr stieg und stieg – und war schon je etwas passiert? Sie blätterte weiter zur Wochenendbeilage. Auf der ersten Seite, der „Brücke zur Welt“, fand sie einen Artikel, der ausfabulierte, was aus Deutschland geworden wäre, wenn die Aufstände damals Erfolg gehabt und die Wiedervereinigung herbeigeführt hätten. „Die Sporen sozialistischer Gleichmacherei hätten sich in ganz Westeuropa verbreitet.“

Der Waggon kam mit einem heftigen Rucker zum Stehen. Julia S. erwachte und sah draußen vor den Fenstern den staubigen Bahnsteig. Eilig griff sie nach Jacke und Tasche, hastete zur Tür und stieg aus. Zum ersten Mal löste der Anblick der enormen Baugrube für den Tiefbahnhof Erleichterung in ihr aus. „Was für ein Albtraum“, dachte sie, „was für ein Albtraum.“