Der Mehrheit der Deutschen geht selbst Merkels Hilfsbereitschaft zu weit. Wie weit darf sich eine Kanzlerin vom Volkswillen entfernen?
Wer als Regierungschef dauerhaft gegen die Bevölkerungsmehrheit agiert, ist politisch bald mausetot. Aber man muss den Stimmungen ja nicht devot begegnen. Gerade Deutschland mit neun Nachbarländern, mit einer exportgetriebenen Wirtschaft hat ein massives Interesse, diese europäische Gemeinschaft zu stabilisieren. Man kann ja Ehrgeiz entwickeln, dieses Europa neu zu erzählen.

Und am Ende stehen die Vereinigten Staaten von Europa?
Ich würde den Begriff der Vereinigten Staaten nicht verwenden, weil die Analogie mit den USA nicht passt. Aber ich bin sehr dafür, die europäische Integration voranzutreiben. Dazu muss man ehrlich sagen: das schließt die Abgabe nationaler Rechte zwingend ein. Darüber werden die Bürger in Deutschland eines Tages abstimmen müssen.

Sie meinen: im Rahmen einer Volksabstimmung?
Ja. Wer den Verfassungsrichtern aufmerksam zugehört hat, weiß, dass es anders nicht geht. Das wäre ein absolutes Novum. Wir haben das Volk nicht einmal über das Grundgesetz, über die Wiedervereinigung und über die Aufgabe der D-Mark befinden lassen.

Könnte dieser Weg über den Artikel 146 des Grundgesetzes bereits für den großen Rettungsschirm und den Fiskalpakt notwendig sein, der in Kürze von Karlsruhe geprüft wird?
Ich kann mir schon vorstellen, dass die Geduld des Bundesverfassungsgerichts langsam an ein Ende kommt. Aber gleichzeitig gilt: Fiskalpakt – plus die Wachstumsinitiative – und ESM-Rettungsschirm gehören zur kurzfristig notwendigen Krisenreaktion. Da muss sich jeder, der das stoppen will, fragen, ob er eine gefährliche Zuspitzung der Lage riskieren will.

Haben Sie angesichts der wachsenden Europa-Skepsis Angst vor einer Volksabstimmung?
Solch ein Referendum käme ja nicht über Nacht, sondern frühestens 2013 oder 2014. Wenn die in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft gemeinsam antreten, Europa als richtige Antwort auf das 21. Jahrhundert zu erklären, dann kann man so etwas gewinnen. Europa ist mehr als ein Binnenmarkt: Sozialstaatlichkeit, unabhängige Gerichte, kulturelle Vielfalt, Freiheit, das Erbe der Aufklärung – und endlich ein friedliches Zusammenleben!

Eine weitere Zentralisierung in Brüssel könnte genau diese Vielfalt zerstören.
Wenn ich weitere nationale Rechte abgebe, dann muss Brüssel endlich die Finger lassen von Aufgaben, die auf den Ebenen darunter besser zu erledigen sind. Wie wir unsern Nahverkehr organisieren, geht dort niemanden etwas an.

Die Fragen „Wie viel Geld gibt der Staat aus?“ oder „Wie lange muss ein Bürger arbeiten, bis er die volle Rente bekommt?“ gehören in Ihrer Vision aber sehr wohl nach Brüssel?
Nicht in Form von detaillierten Vorschriften. Aber eine gewisse Vereinheitlichung, gewisse Bandbreiten bei Sozialstandards und im Steuerrecht gehören auch dazu.

Haben die Europäer angesichts des akuten Krisendrucks überhaupt Zeit für eine große Reform?
Wir müssen das eine tun ohne das andere zu lassen.

Die iberischen Banken wanken. Muss bald auch der spanische Staat unter den großen Rettungsschirm – und schließlich Italien?
Es gibt eine unselige Neigung zu süffigen Spekulationen über den denkbar schlechtesten Fall. Daran sollten sich weder Politiker noch Journalisten beteiligen.

Viele Bürger haben Angst um ihr Erspartes. Als Finanzminister haben Sie im Jahr 2008 eine Garantie für alle Spareinlagen abgegeben. Würden Sie das heute wieder tun?
Ja. Die Spareinlagen in Deutschland sind nicht gefährdet.