Es gibt Missstände, die seit Jahren bekannt sind und sich trotzdem hartnäckig halten. Einer könnte in der Pflege bald behoben werden: Die überbordenden Dokumentationspflichten in der Altenpflege sollen endlich auf ein sinnvolles Maß reduziert werden.

Berlin - Es gibt Missstände, die seit Jahren bekannt sind und sich trotzdem zäh und hartnäckig halten. Zu solchen Missständen gehört zweifellos die Bürokratie in der Altenpflege. Schon zu Zeiten von Familienministerin Renate Schmidt (SPD) – lang ist’s her – war eine Kommission zu dem Ergebnis gekommen, dass es in den Alten- und Pflegeheimen „in beträchtlichem Umfang so genannte Überdokumentation gibt“.

 

Das heißt, es werden Daten ermittelt und dokumentiert, die, so hieß es im Bericht der Kommission, „nicht benötigt und nicht genutzt werden.“ Im Frühjahr 2012 nannte dann die nächste Expertenkommission, die von der schwarz-gelben Regierung berufen worden war, konkrete Zahlen, die den Missstand beziffern. Allein für die Pflegedokumentation – in dieser Unterlage sammeln die Pflegekräfte der ambulanten Dienste wie der Heime die Informationen, die für die medizinische und pflegerische Betreuung von Pflegebedürftigen wichtig sind – fallen Sach- und Lohnkosten von 2,7 Milliarden Euro im Jahr an. Um die Dokumentation für einen neuen Heimbewohner anzulegen, müsse man fast sechseinhalb Stunden Arbeitszeit aufwenden.

„Das versaut das Klima“

Fraglos ist richtig, dass es ohne Dokumentation nicht geht. Genauso richtig ist aber auch, dass es das Übermaß gibt, von dem schon Renate Schmidts Expertenkreis sprach. Und damit fehlt den Pflegekräften Zeit für die tatsächliche Pflege und für die menschliche Zuwendung zum bedürftigen Menschen. Die Dokumentation, sagt Karl-Josef Laumann, der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, werde von Pflegekräften und Fachleuten oft als irrsinnig empfunden: „Das versaut das Klima“. In Deutschland sei eine Kultur entstanden, „als könne man Qualität in die Heime quasi hineinprüfen: Das ist irre“.

Möglicherweise wird sich das Klima bald verbessern. Auf Initiative von Elisabeth Beikirch, der Ombudsfrau zur Entbürokratisierung in der Pflege, hat ein dritter Fachleutekreis getagt und nun vielversprechende Vorschläge zur Entbürokratisierung vorgelegt. Daran waren neben Wissenschaftlern, Verbandsvertretern, Kassenleuten und Abgesandten des Medizinischen Diensts immerhin 29 ambulante Pflegedienste und 23 Alten- und Pflegeheime beteiligt. Und wenn Praktiker mitreden, kann das nicht schaden. Sie haben über Monate hinweg ein neues System für die notwendige Dokumentation im Arbeitsalltag erprobt.

Das System stellt darauf ab, welchen Eindruck eine Pflegekraft von einem pflegebedürftigen Menschen hat – wie es also um seine kognitiven Fähigkeiten bestellt ist, wie mobil er ist, welche Krankheiten er hat, wie gut er sich noch zum Beispiel beim Anziehen oder der Körperpflege selbst versorgen kann und wie er in soziale Beziehungen eingebunden ist. Daraus wird dann ein Pflegekonzept entwickelt. Es soll also Schluss damit sein, dass eine Pflegekraft auf einer vorgefertigten Checkliste abhakt, welche Verrichtungen sie erledigt hat. Ihr fachliches Können, ihre Anschauung des Patienten soll vielmehr in den Mittelpunkt der Dokumentation rücken.

Künftig kein Anti-Sturz-Plan mehr für Bettlägerige

Bisher, sagt Bernd Meurer, der Präsident des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste, habe „Schema F“ gegolten. Auch wenn beispielsweise jemand bettlägerig war, musste ein „Sturz-Assessment“ erstellt werden, also eine Planung, wie sich verhindern lässt, dass jemand stürzt und sich verletzt. Diese Arbeit soll künftig erst dann stattfinden, wenn sie im konkreten Einzelfall nötig ist – wenn also der Bettlägerige wieder aufstehen, laufen – und möglicherweise stürzen kann.

Das neue Verfahren für die Dokumentation ist aus Meurers Sicht ein „großer Schritt nach vorn.“ Die Pflegekassen und die Anbieter von Pflegeleistungen wollen es rasch umsetzen, wie der Kassen-Spitzenverband am Dienstag erklärte. Dass es im dritten Anlauf gelingt, einen hartnäckigen Missstand zu überwinden, liegt auch am Rat, den sich die Beikirch-Kommission von namhaften Juristen einholte. Bisher herrschte die Haltung vor, dass die Checklisten/Häkchen-Variante aus haftungsrechtlichen Gründen nötig sei. Dies, so die Juristen, sei keineswegs der Fall. Eine knappe, aber aussagekräftige Dokumentation reiche aus.