Tief unter den italienischen Bergen fahnden Forscher nach Indizien für neue Theorien und versuchen die kleinsten Elementarteilchen einzufangen.

Gran Sasso - Wer der Sonne ausweichen will, geht in den Schatten. Wer ihr näher kommen will, der muss unter den Berg. So widersinnig das klingt - es beschreibt einen Teil dessen, was Forscher aus 28 Ländern im Zentrum Italiens tun. Mitten im Bergmassiv des knapp 3000 Meter hohen Gran Sasso, im weltgrößten unterirdischen Forschungslabor, versuchen sie kleinste Elementarteilchen einzufangen: jene geheimnisvollen Neutrinos, die aus der Sonne oder sonstwo aus dem Weltall kommen und nahezu ungehindert jegliche Materie durchdringen, die in dichten Schwärmen auch mitten durch den Erdball schießen - und die das Standardmodell der Elementarteilchen auf eine harte Probe stellen: die Vorstellung also, die Wissenschaftler bisher vom Aufbau der Atome, von der Bildung der Materie und letztlich von der Entstehung der Welt haben.

Nicht genug damit: wenn sie schon die experimentellen Vorreiter der "neuen Physik" sind, beschäftigen sich die Forscher im Fels auch gleich mit jener noch rätselhafteren "Dunklen Materie", aus der nach einer Theorie 23 Prozent des Weltalls bestehen sollen. (Dazu kommen 73 Prozent der genauso rätselhaften Dunklen Energie und vier Prozent gewöhnliche Materie.) Manche meinen sogar, unter dem Gran Sasso die Dunkle Materie bereits "gesehen" zu haben - aber nicht viele Physiker glauben daran.

Aber wie kommt man unter den Berg? Ganz einfach: auf der Autobahn. Das Labor im Gran Sasso verdankt sich dem Geistesblitz italienischer Physiker in den siebziger Jahren: Wenn man schon den Berg für einen zehn Kilometer langen Straßentunnel durchwühle, beschworen sie die Politiker, dann könnte man ja gleich noch, recht preisgünstig, drei weitere Röhren für ein kernphysikalisches Labor graben.

Der Erfolg hat sich erst dieser Tage eingestellt


Und so geschah es. Es war ein Glücksfall für eine Physik, die es damals noch gar nicht so richtig gab: die "Astro-Elementarteilchen-Physik". Heute ist das Laboratorium, das vom Nationalen Italienischen Institut für Kernphysik (INFN) betrieben wird, das einzige auf der Erde, das auch für schwerstes Gerät zugänglich ist. "Andere Forschungsstätten dieser Art", sagt Laborchefin Lucia Votano, "sind in Bergwerken untergebracht, wo man nur mit engen, langen Aufzügen hinkommt. Wir aber haben einen Autobahnanschluss mitten im Berg. Wir fahren mit den Lastwagen hinein." Was das bedeutet, erklärt der deutsche Physiker Matthias Junker, der im Gran Sasso seine Doktorarbeit geschrieben hat und noch in der Nähe wohnt. "Wer die kleinsten Teilchen fangen will", sagt er, "braucht die größten Apparate; anders geht's nicht." Junker steht in einer der hundert Meter langen und 20 Meter weiten Röhren, vor einem beinahe raumfüllenden Würfel aus 150.000 Bleiquadern. Ein Greifroboter surrt die Wände auf und ab, pickt sich hier einen Bleiklotz heraus und da; rot blinkt ein Warnlicht: "Magnet eingeschaltet."

"Ich weiß nicht", sagt Junker, "ob's Zufall war oder Planung: die Laborröhre ist exakt auf das Cern-Labor und dessen Beschleuniger in Genf ausgerichtet." Und das hilft einem der 15 Großexperimente unter dem Berg ungemein: Das europäische Forschungszentrum in Genf produziert Schwärme von Neutrinos, schickt sie unter der Erde Richtung Gran Sasso - und dort versucht der Bleiwürfel "Opera", sie aufzufangen.

"Die Ruhe dafür haben wir nur unterm Berg", sagt Junker: "Die 1400 Meter Dolomit-Fels über uns schirmen die ganze kosmische Strahlung ab, wir haben nur mehr Neutrinos um uns herum." Und trotzdem: die Dinger sind nicht zu fassen. Von den dutzenden Milliarden Neutrinos, die das Cern jeden Tag auf die Reise schickt, bleibt pro Jahr höchstens eine Handvoll in den mit Fotopapier durchsetzten Bleiziegeln des Gran Sasso hängen. Der Erfolg, auf den die Forscher seit Jahren warten, hat sich erst dieser Tage eingestellt: "Opera" hat das erste Neutrino ertappt - ein einziges -, das sich im Lauf der Reise verändert hat.

Das Standardmodell reicht zur Welterklärung nicht mehr aus


Dass das möglich ist, haben theoretische Forscher vermutet. Denn es gelangen wesentlich weniger Sonnenneutrinos zur Erde und unter den Gran Sasso, als physikalisch zu erwarten wäre. Wo aber bleiben all die anderen? Die Vermutung lautet, sie könnten sich auf ihrem Weg durch die Welt eine andere "Farbe" zugelegt, ihre Teilchenfamilie gewechselt haben und sich damit dem Nachweis entziehen. Praktisch nachgewiesen ist das erst jetzt. Ein Myon-Neutrino muss sich in ein Tau-Neutrino umgewandelt haben. Damit steht fest, dass das Standardmodell der Teilchenphysik zur Welterklärung nicht mehr ausreicht. Denn verändern können sich Neutrinos nur, wenn sie eine Masse haben. Und das passt nicht in die konventionellen Atommodelle.

Noch weiter gehen "Gerda" und "Cuore" in der nächsten Tunnelröhre. Diese zwei international ausgetüftelten Experimente untersuchen Neutrinos, die "von innen" kommen, also aus dem Beta-Zerfall radioaktiver Atomkerne. Dabei, so die bisherige Lehre, entstehen ein Elektron oder sein Antiteilchen, das Positron, und eben ein Neutrino. "Gerda" und "Cuore" sollen prüfen, ob es nicht auch einen "neutrinolosen Doppel-Beta-Zerfall" gibt. Dessen Nachweis würde bedeuten, dass das Neutrino kein Antiteilchen hätte, sondern sein eigenes Antiteilchen wäre. Das wäre der nächste Verstoß gegen das Standardmodell und sozusagen ein Beitrag zur Antwort auf die klassische Frage: "Warum ist in der Welt etwas und nicht vielmehr nichts?"

Wenn Teilchen und Antiteilchen aufeinanderprallen, dann, so Junker, löschen sie sich gegenseitig aus. Das Standardmodell vermutet, dass beim Urknall ebenso viel Materie wie Antimaterie entstanden ist. Aber warum hat die frisch entstandene Welt sich dann nicht gleich wieder selbst ausgelöscht? Es muss also irgendwie, irgendwann ein "Ungleichgewicht" in der Zusammensetzung der Urmaterie gegeben haben. Dabei könnten Neutrinos ihre Finger im Spiel gehabt haben, "rechtshändige Neutrinos", sagt Junker. Doch die hat noch keiner gesehen, bisher kennt man nur "linkshändige". Aber da können nicht mehr viele Besucher folgen.

Die Existenz der Dunklen Materie


Noch vertrackter wird's in der dritten Röhre. Da soll "Xenon" aufspüren, was sich - per definitionem - gar nicht aufspüren lässt und was komplett jenseits des Standardmodells liegt: die Dunkle Materie. Das sei ein "sehr spekulatives Experiment", räumt selbst Junker ein. Denn für die Existenz der Dunklen Materie - und vor allem für ihr unerhörtes Übergewicht im Kosmos gegenüber der sichtbaren Materie - gibt es bisher nur Indizien. So überzeugend diese für die Forscher klingen: bisher haben sie noch kein einziges Teilchen der Dunklen Materie bei irgendeiner Reaktion beobachtet. Mit "Xenon" hofft die weltweite Forschergemeinde, dass sie es doch einmal erleben werden, und wenn's nur mit einem Teilchen pro Jahr ist.

Die "Radarfalle" ist mit 170 Kilo des verflüssigten Edelgases Xenon gefüllt. Dieser Stoff sei so dicht, dass an seinen Atomen statistisch alle zwölf Monate ein "Wimp" zerschellen müsste, ein theoretisch vorhergesagtes Teilchen der Dunklen Materie. "Vielleicht käme man mit einem Tank von 1000 Kilo Xenon weiter", überlegt Junker. "Aber dieses Experiment hat erst kürzlich, praktisch wie ein Spielzeug, angefangen."