Nach ihren Erfolgen sehen viele die Piraten schon auf den Bundestag zusteuern. Derweil macht sich die Basis der jungen Partei bereit, auch die Kommunalpolitik zu erobern.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Göppingen - Grüne kommen mit dem Fahrrad zur Parteiversammlung, bei der CDU wird die Deutschlandhymne gesungen – und bei den Piraten stehen Notebooks auf dem Tisch. Schön, wenn sich Klischees bestätigen, wie an diesem Abend im Latinum, einer gut besuchten Szenekneipe gleich hinter dem Göppinger Rathaus. Früher war hier die Lateinschule untergebracht, heute stechen am selben Ort die onlineaffinen Politfreischärler in See. Sie wollen der Göppinger Stadtpolitik das Fürchten lehren. Klar machen zum Ändern, heißt das in Seeräubersprache. Nur zu dumm, dass im Gewölbekeller des Latinum wegen der dicken Mauern keine Verbindung ins Internet zu bekommen ist.

 

Also müssen die Parteimitglieder, die sonst in den unendlichen Weiten des Datennetzes unterwegs sind, an diesem Abend offline in die Tiefen der Lokalpolitik abtauchen. Ein Kommunalwahlprogramm soll her. Doch die Piraten beschäftigen sich nicht mit dem riesigen Einkaufszentrum, das ein paar Straßen weiter gebaut werden soll, oder mit der Finanzierung fehlender Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren. Es geht vielmehr um ein piratentypisches Thema. „Die Stadtverwaltung soll vollständig offenlegen, welche Daten ihrer Bürger sie speichert und wie sie diese schützt“, heißt es im Antrag.

„Das ist im Prinzip unser Grundgedanke beim Datenschutz“, stellt Martin Stoppler bedeutungsschwer fest, und die anderen nicken. Doch schon beim nächsten Punkt wird kontrovers diskutiert. „Der kommunale Datenschutzbeauftragte soll personell besser ausgestattet werden“, heißt es da. Julian Beier findet das übertrieben. „Es gibt schon einen Datenschutzbeauftragten bei der Stadt. Wozu braucht man da ein ganzes Büro?“, fragt der 17-jährige Schüler. Auch die Forderung, die Stadt solle bei der nächsten Volkszählung nicht mehr mitwirken, wird gestrichen. Gewiss, viele Fragen seien bei der Zählung überflüssig gewesen. Aber sie „grundsätzlich abzulehnen ist falsch“, sagt auch Stoppler. Und außerdem: wen interessiert bei der nächsten Wahl ein Thema, das schon jetzt aus dem Vorjahr stammt.

Festplatte auf lokaler Ebene komplett frei

Wer jetzt dabei ist, kann über die gesamte inhaltliche Positionierung einer neuen, aufstrebenden Partei bestimmen. Die Abstimmung erfolgt übrigens ganz konventionell durch Handheben. Die Piraten kennen die Tücken von Computern. Der Einsatz von Wahlmaschinen wird deshalb generell abgelehnt. Das ist einer der wenigen Punkte, die bereits Aufnahme ins kommunale Wahlprogramm gefunden haben.

Wenn die Politiker anderer Parteien etwas über die Piraten sagen sollen, dann ist dies das Einzige, was sie zurzeit noch aufrichtet: es gebe noch viel zu viele weiße Flecken im Programm. Zu vielen wichtigen Problemen hätten sie schlicht nichts beizutragen. Dies gilt umso mehr auf lokaler Ebene. Da ist die Festplatte komplett frei. Nervös wird Stoppler trotzdem nicht. Der Student für technische Kybernetik kann rechnen. „Wir haben Zeit. Die nächste Kommunalwahl ist 2014.“

Dann, so der Plan, sollen das Regionalparlament, der Kreistag und vielleicht auch der ein oder andere Gemeinderat gekapert werden. Um auf dem Weg dorthin nicht ganz bei null anzufangen, hat Stefan Klotz die Vorlage für ein Kommunalwahlprogramm bei anderen Kreisverbänden zusammenkopiert. Der 25-jährige Elektroniker, Fachrichtung Gebäudetechnik, hätte sich vor wenigen Jahren nicht träumen lassen, dass er in die Politik geht. „Ich bin ein Schaffer“, sagt er. Klassensprecher war er nie, eher derjenige, der später das Klassentreffen organisierte. Inzwischen hat er zusammen mit Stoppler die Piraten im Kreis gegründet und bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr sogar für die neue Partei kandidiert. Im Wahlkreis Göppingen holte er 2,4 Prozent und lag damit über dem Landesergebnis, was durchaus der Struktur des Kreises geschuldet sein könnte: wenig Akademiker, dafür viele technische Berufe.

Lustig macht sich keiner mehr

Ob nun der nächste Schritt, die Gründung eines Kreisverbandes folgt, ist intern noch umstritten. In Ludwigsburg ist man diesen Weg gegangen, in Göppingen wie in den meisten anderen Kreisen gibt es aber bisher nur Stammtische, die sich in einer Kneipe oder auch virtuell zur politischen Arbeit verabreden. „Es funktioniert ganz gut auch ohne Kreisverband“, sagen die einen. Außerdem fühle sich dann jeder verantwortlich. Das passe besser zur basisdemokratischen Ausrichtung der Piraten. Andere sehen hingegen einen Vorteil darin, in der Öffentlichkeit mit offiziellen Sprechern auftreten zu können. Einen demokratisch gewählten Vorstand gibt es bisher nur auf der Ebene des Regierungsbezirks Stuttgart. Der lässt den Stammtischen weitgehend freie Hand. In einer Partei, die sich in vielen Punkten inhaltlich noch nicht festgelegt hat, gibt es keine Inquisition.

Ebenso unbürokratisch war der Beginn, kurz vor der Bundestagswahl 2009, als Klotz im Internet nach Verbündeten suchte. Stoppler meldete sich. Zum ersten Blind Date in einer Göppinger Kneipe kamen dann schon fünf Leute. Zwei Wochen später gab’s den ersten Infostand. Später baute man sich ein Piratenschiff auf Bollerwagenbasis. Der Anfang war allerdings schwer. „Piraten seid ihr? Wo sind denn eure Augenklappen?“, witzelten die Passanten. „Andere fragten, ob wir aus Somalia kämen wegen der dortigen Piratenangriffe“, erinnert sich Stoppler.

Das hat sich geändert. „Jetzt geht es um inhaltliche Fragen“, sagt Stoppler. Lustig macht sich nach den Erfolgen bei der Berlin-Wahl und der Landtagswahl im Saarland keiner mehr. Das haben sie bei ihren Infoständen in den vergangenen Wochen schon gemerkt. Auch wenn in Baden-Württemberg nicht gewählt wird, waren die Piraten auf der Straße. „Uns war klar, dass wir jetzt die Leute informieren müssen“, sagt Stoppler. Morgen ist schon der nächste Infostand.

“Wir wollen nicht in einem Klima der Angst leben“

Wenn alles von den Piraten spricht, muss man sich zeigen. Das gilt auch für den Stammtisch im Latinum. Acht Männer und eine Frau sind an diesem Abend gekommen, und die meisten tragen ihr Bekenntnis als schwarzes T-Shirt mit orangener Piratenaufschrift zur Schau. Nur Rainer Bendig nicht. „Ich bin nicht so ein T-Shirt-Träger“, sagt der 30-jährige selbstständige Softwareentwickler. Mit schwarzem Hemd und orange Krawatte ist er aber nicht minder stilecht.

Der ältere Herr, der kurz darauf das Latinum betritt, hat es dank solcher Hinweise nicht schwer, den Piratenstammtisch zu finden. Die Neugierde habe ihn hergetrieben, sagt der Mann. „Ich gehe gerade aus dem Beruf heraus und möchte mich engagieren.“ Allerdings wolle er dies „nicht in festgefahrenen Strukturen“ tun. Seinen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen: aus Rücksicht auf seine Frau. „Sie ist Stadträtin.“

Es ist ein kolossaler Zulauf, den auch Göppinger Piraten spüren und der längst über die onlineaffine Kernklientel hinausgeht. 37 Mitglieder waren sie im November, 56 sind es inzwischen, auf Facebook hat der Göppinger Stammtisch 157 Freunde. Der Linkspartei mit 71 Mitgliedern sind sie dicht auf den Fersen, landesweit sollen sie die Linke sogar schon überholt haben. Manchmal ist den Aktivisten der Siegeszug selbst nicht geheuer. Julia Uebele kann es jedenfalls immer noch nicht fassen, was sie neulich bei einem Gespräch mit einem Praktikanten erfahren hat. Klar habe er schon die Piraten gewählt, das täten viele in seinem Freundeskreis, habe er ihr erklärt. Zur Demo gegen einen Naziaufmarsch am Bahnhof, zu dem auch die Piraten aufgerufen hatten, sei er aber nicht gegangen – na ja, er sei ja selbst ein bisschen rechts. „Also solche Stimmen möchte ich nicht haben“, erregt sich die 28-jährige Heilerziehungspflegerin.

Neue Themen im Gemeinderat?

Ob die Rechten vielleicht gut finden, dass sich die Piraten so strikt gegen die Videoüberwachung in Bussen sowie auf öffentlichen Straßen und Plätzen wenden? Im Latinum schauen sie auf ihre Notebooks und E-Pads. Dem älteren Herrn hat jemand einen Ausdruck auf Papier herübergereicht. „Kameras können nicht eingreifen, wenn etwas passiert“, sagt der 28-jährige Julian Hoefer, ein Diplomökonom und Jurastudent aus Wangen. „Vorbeugend bringt das gar nichts.“ Stattdessen greife die ständige Überwachung in die Grundrechte der Bevölkerung ein. Na ja, der Vandalismus in den Linienbussen sei schon zurückgegangen, wendet Bendig ein und zupft an seiner Krawatte. Doch davon wollen die anderen nichts wissen. „Was ist mehr wert? Ein Polstersitz oder die persönlichen Daten?“, fragt Julia Uebele.

„Eins steht fest: es werden mit den Piraten in jedem Fall neue Themen in den Gemeinderat kommen“, stellt der ältere Herr fest, nachdem er eineinhalb Stunden den Diskussionen gefolgt ist. Manches sei aber auch altbekannt, werde jedoch ganz neu diskutiert. Über die angebliche Abzocke an städtischen Blitzerkästen hat sich in der Tat auch schon mancher Temposünder im amtierenden Gemeinderat beklagt. So schön wie die Piraten hat es aber noch keiner formuliert: „Wir wollen nicht in einem Klima der Angst und ständigen Überwachbarkeit leben und fordern daher den Stopp der ziellosen und ausufernden Verkehrsüberwachung durch die Stadt Göppingen, die lediglich dazu dient, klamme Kassen aufzubessern.“ Am Ende wird aber auch dieser Punkt nicht beschlossen. Die Zweifel siegen, ob man den Punkt Verkehrsüberwachung wirklich nur unter Datenschutzgesichtspunkten sehen sollte. Ein guter Pirat gründet in solchen Fällen übrigens ein Pad. „Das ist ein sehr praktisches Piratentool“, sagt Stoppler. Da muss man sich nur freischalten lassen, und schon kann jeder mitdiskutieren, vom heimischen Computer aus oder am Notebook, wo immer man auch ist.