Die Musikbranche darbt, alte Vertriebswege sind verbrannt. Einzelne Songs sind beliebter als programmatisch geschlossene CDs. Der Musik geht es aber nicht schlechter.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Die Musikindustrie alten Schlags hat ihre besten Zeiten hinter sich. Davon zeugen nicht nur die zurückgehenden Umsätze. Man hört heute ganz anders: der einzelne Song ist beliebter als die programmatisch geschlossene CD. Es ist durchaus rational, dass Plattenfirmen diesen Trend mitgehen. Sie setzen zugleich auf geringe Honorare für Neulinge und Gewinne durch die Stars – selbst wenn die längst tot sind. Die Industrie setzte sich erfolgreich dafür ein, die Rechte an den Songs von Elvis und anderen Größen noch einige Jahre länger zu Geld machen zu können. War ja so schön in der guten, alten Zeit.

 

An den Stars verdient die Popindustrie bis heute, selbst wenn die Nutzer statt ganzer Alben eher für wenige Cent Hit-Singles erwerben. Im Gegenzug hat die Digitalisierung Herstellung und Vertrieb verbilligt. Das Problem der großen Plattenlabels ist ein anderes: Ihre Vorauswahl aus dem schier unendlich breiten popmusikalischen Spektrum gilt nicht länger exklusiv.

Das heißt nicht, dass es dem Pop an sich schlechter geht. Die wirtschaftliche Lage des Popbusiness ist das eine, die künstlerische das andere. Obwohl im Musikuniversum viel Schund – vielleicht mehr als je zuvor – kursiert, geht es dem Pop musikalisch so gut wie selten. Daran haben nicht Musikkonzerne den Hauptanteil, sondern kleine Labels und Selbstvertreiber.

Amateure oft kreativer

Es waren die Plattenfirmen, die schon in den Achtzigern den Markt mit Billigproduktionen überschütteten und so ihre eigene Glaubwürdigkeit untergruben. Damals hatte der Hörer keine andere Wahl: Nimm unser Angebot oder höre eben nichts! Das ist heute anders. Musik in hoher klanglicher Qualität aufzunehmen und zu verbreiten, ist dank der Digitalisierung dramatisch günstiger geworden. Eine riesige Community an Musikern produziert, verteilt und hört Pop um seiner selbst Willen. Diese Art von Pop ist experimentierfreudig und muss keiner Verwertungslogik folgen.

Zuerst ein Renner im Internet

Was Amateure einspielen und im Netz bekannt wird, ist oft kreativer als das, was aus den etablierten Kanälen zu uns kommt. Die britische Band Arctic Monkeys beispielsweise war im Netz der Renner, bevor sie ins Geschäft einstieg. Solche Künstler vermarkten sich selbst oder sind bei kleinen Labels unter Vertrag. Auch die wollen Gewinn machen, sind aber viel mehr der Musik verpflichtet als die Branchenriesen.

Die popmusikalische Welt wird ohne große Labels als exklusive Pop-Kuratoren weniger überschaubar. Aber Musik online zu suchen, ist nicht schlimmer, als sich dem Urteil von A&R-Managern auszusetzen. Was neben der Marktmacht der Musikkonzerne bröckelt, ist der Einfluss alter Geschmacksautoritäten.

CD-Verkäufe und Downloads kann man messen

Heute ist der Hörer die einzige Autorität. Je spezieller sein Musikgeschmack, desto leichter findet er, was er sucht: Musiker, die ihre Musik online als „Pop“ klassifizieren, haben es schwerer als solche, die sich unter „Lo-Fi“ oder „Chillwave“ einsortieren. Die Kritiker der „Long Tail“-Theorie hatten zwar Recht: Es ist etwa für Musikhändler sinnvoller, wenige Bestseller in großer Menge abzusetzen als darauf zu setzen, dass sich noch für die abwegigste Platte aus einem riesigen Angebot irgendwann ein Käufer findet. Doch genau diese Ausweitung verfügbarer Musik wird im Web gefördert, und die Hörer stellen sich darauf ein. Was es (noch) nicht zu kaufen gibt, das gibt es eben kostenlos im Netz zu hören.

CD-Verkäufe und Downloads kann man messen, musikalische Qualität nur schwer. Ob wir heute aus mehr guter Musik oder aus einer Schwemme von viel schlechter Musik zu wählen haben, ist Einstellungssache. Doch das ist ja das Schöne am Netz: Was gut ist und was schlecht, entscheidet jeder selbst. Wenn die untalentierteste Schülerband mit ihren Aufnahmen nur fünf Hörer irgendwo auf der Welt begeistert, dann ist allen mehr gedient als wenn jemand entschieden hätte, dass es diese Schülerband nicht verdient hat, jemals von irgendwem gehört zu werden.

Diese Entwicklung begann vor mehr als dreißig Jahren. Kaum jemand würde behaupten, dass die Sex Pistols „gute“ Musik gemacht haben. Und doch ist die britische Band ein wichtiger Vertreter der Mitte der Siebziger entstandenen Punkmusik, die sich bis heute weniger durch musikalische Kunstfertigkeit als durch die Einheit von Klang, Haltung und Stil auszeichnet sowie eine Do-it-yourself-Mentalität.

Das Motto lautet: Stil vor Talent

Punk ist nicht nur eine Reflexionsfläche für jüngere Musikstile. Die Abkehr vom rein musikalisch-künstlerischen Qualitätsideal hin zum Ausdruck einer Ästhetik vollzogen seither etliche popmusikalische Strömungen – von den Poppern und Wavern in den Achtzigern über Straight Edge und Electronic Body Music in den frühen Neunzigern bis zu den Anhängern von Gothic und Indie, um nur einige Beispiele zu nennen. „Stil vor Talent“ lautet das Motto nicht nur des gleichnamigen Electro-Labels des DJs Oliver Koletzki, sondern einer ganzen Branche, die die Do-It-Yourself- sowie die Gratiskultur atmet und erst in zweiter Linie ans Geldverdienen denkt.

Punk kam zwar auf, als die Plattenindustrie noch weitgehend das Monopol auf die Verbreitung von Musik hatte. Doch tatsächlich brachen die Sex Pistols mit ihrem Label Emi, das die erste Single „Anarchy in the UK“ wieder einstampfte. Letztlich landete die Band beim jungen (und heute arrivierten) Label Virgin.

Die Punkszene begann als erste, die Grenzen zwischen Produzent und Konsument aufzulösen. Mal stand man auf der Bühne, mal im Publikum; musikalisches Talent war relativ unwichtig. Das entsprach durchaus der Logik des Pop, wo das E-Musik-Ideal der technischen Perfektion weniger gilt. Schon die ersten Elvis- oder Beatles-Platten wurden vom konservativen Publikum zunächst als „Affenmusik“ abgetan, ehe sich die Massen für den Sound und die Show toll begeisterten – und nicht etwa kritisierten, dass die Bassläufe oft alles andere als virtuos waren.

Hörer finden schon Wege zur Musik

Es ist gut, wenn jeder Zugang zu einer ungefilterten, weltweiten Musikcommunity hat. Die Kreativität, die mit den neuen technischen Möglichkeiten auf der Asche der Musikindustrie gedeiht, macht die Unübersichtlichkeit mehr als wett. Hörer finden schon Wege zu Musik, die ihnen gefällt.

Nicht einmal das häufig beklagte Ende des Mediums CD ist absehbar. Jeden Monat spielen auch in Stuttgarter Liveclubs und Bars dutzendweise Bands, die bei einer kleinen Plattenfirma untergekommen sind oder ganz ohne Plattenvertrag Musik machen. Sie alle nehmen dank der verhältnismäßig geringen Kosten eifriger denn je Musik auf und verkaufen sie nicht nur in digitalen Formaten, sondern auch auf CD oder LP. An solche Aufnahmen wäre man früher nur mit größten Schwierigkeiten gekommen. Dass uns jetzt so viel frische und oft gut klingende Musik umgibt, macht den Niedergang der Branchenriesen mehr als wett.