1989 ist Angela Kuboth eine Frau an der Quelle der Macht in Ostdeutschland. Dann bricht die DDR zusammen - damit ändert sich alles für sie.

Neubrandenburg - Vor Kurzem hätte ich mit Ihnen noch nicht sprechen dürfen.“ Es ist der 29. Juni 1990. Noch existiert die DDR, noch sind die Soldaten der Nationalen Volksarmee auf den Sozialismus vereidigt. Auch in Neubrandenburg warten die Menschen auf die Einführung der westdeutschen D-Mark am 1. Juli. Angela Kuboth ist Leiterin der Regionalredaktion des „Nordkurier“, der bis zum 1. April noch „Freie Erde“ geheißen hatte und das Organ der Bezirksleitung Neubrandenburg der SED gewesen war.

 

Kuboth erklärt dem für eine Reportage aus dem Westen angereisten Kollegen, der von der real existierenden DDR wenig Ahnung hat, die elementaren Dinge. Wo in Neubrandenburg die Tankstelle ist, beispielsweise, und wer in der Südstadt, einem der Neubaugebiete, wohnt – viele Offiziere der Volksarmee nämlich. Der Kollege, der sie 22 Jahre danach wieder besuchen wird, hatte aufs Geratewohl angerufen und Kuboth hatte dem Unbekannten binnen Tagen alle Wege geebnet und alle Türen geöffnet: bei der Leiterin der HO-Kaufhalle Ost II, beim Chef des Konsumgenossenschaftsverbandes, bei der Frau vom Getränkestützpunkt, beim Molkereichef, beim Hauskreis der evangelischen Kirche und bei vielen anderen. Sie schleppt den Autor dieser Geschichte gleich auch noch mit zum Dorffest am Tümpel von Zachow, wo die Menschen gerade auf die Zukunft mit einem Investor und einem Ferienpark hoffen. Vergeblich, wie sich später zeigen wird.

Es ist die Zwischenzeit für Angela Kuboth. Sie hatte ein Leben davor, sie wird ein Leben danach haben und ein Leben nach diesem. Und alle drei sind doch ein Menschenleben. Dass sie alle fast unbeschadet überstehen konnte, dafür hat sie eine Erklärung: „Mich hat meine Naivität geschützt.“ Das sagt Kuboth 22 Jahre später.

Es gab Kämpfer und es gab Duckmäuser

Beinahe hätte die Oberschülerin Kuboth Atomphysik studiert. Das klappte damals aber nicht. Dann solle die Tochter eben Journalistin werden, bestimmte die Mutter, eine Schuldirektorin. Schreiben könne sie ja. Das hatte Angela schon in der 9. Klasse als Schulkorrespondentin geübt.

Journalismus konnte man in der DDR in Leipzig studieren, hundert Absolventen pro Jahr. Die Nachfrage war erheblich größer. „Wir hatten eine gründlichere Ausbildung, nicht nur in Politik, auch Stilistik, Methodik, Sprachen.“ Kuboth trat, anders als viele Kommilitonen, in die SED ein. „Ich war von der Idee überzeugt.“ Sie hat gern in der DDR gelebt. „Die Reisefreiheit hat mir nicht gefehlt. Ich konnte nach Ungarn.“ Die Chefin beim Volontariat in Weißwasser wurde ihr Vorbild: „Sie war eine Vollblutjournalistin. Sie hat für die Belange der Leute gekämpft.“ Kuboth hat auch andere Journalisten erlebt, Duckmäuser.

1988 erhält sie die Stelle der Lokalchefin bei der „Freien Erde“ in Neubrandenburg. Da ist sie bereits seit sieben Jahren verheiratet und hat zwei Kinder. Sie folgt ihrem Mann, einem Offizier der Volksarmee, der in die Bezirkshauptstadt versetzt worden ist. „Ich habe nichts Regimekritisches geschrieben.“ Sie versucht, Grenzen auszuloten, nicht anzuecken, Lesern zu helfen. Sie versucht „zu informieren, ohne zu viel kaputt zu machen“, wenn wieder einmal zu wenig Brot produziert worden oder der Strom ausgefallen ist. „Ich habe daran geglaubt, dass ich etwas ändern kann.“ So schreibt sie auch, kritisch im Detail, nicht ideologisch, aber affirmativ gegenüber dem System und der Provinz gemäß. Nach der Wende wird sie sagen: „Ich habe immer nach meinem Gewissen gelebt, habe es nicht besser gewusst. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass jemand die Ideale des Sozialismus so verraten kann.“

„Ich habe geglaubt, über alles Bescheid zu wissen“

1989 ist Angela Kuboth in Neubrandenburg eine wichtige, eine einflussreiche Frau an der Quelle der Macht. Sie ist Mitglied der Kreisleitung der SED, wo auch die Chefs der Betriebe und der Klinik sitzen. Im Sekretariat der Kreisleitung, dem inneren Zirkel der Macht, werden jede Woche „alle Dinge durchgesprochen“. Angela Kuboth muss dort erscheinen. Im Sekretariat werden Themen entwickelt und vorgegeben. Dort wird bei kritischen Themen entschieden, was geschrieben wird und was nicht. Angela Kuboth kämpft für ihre Themen. „Ich habe geglaubt, über alles Bescheid zu wissen. Was unabhängige Recherche ist, habe ich erst nach der Wende erfahren.“

Unmittelbar vor der Wende versucht die Stasi, Angela Kuboth als Inoffizielle Mitarbeiterin anzuwerben. Sie hat Nein gesagt. Später wird sie ihre eigene Stasiakte lesen. Die, die sie in ihrer Wut verdächtigt hat, haben sie nicht verraten. Zwei Kolleginnen sind leicht erkennbar. Die Namen der anderen, offenkundig Gäste der gastfreundlichen Familie, will sie nicht wissen.

Auch in Neubrandenburg kommt die Zeit der Demonstrationen. Sie protestieren auch vor dem Haus der „Freien Erde“. Die Redaktion öffnet ihre Türen. Es folgt die Zeit der Runden Tische. Angela Kuboth sitzt als einzige Journalistin immer mit dabei. Die neuen Parteien bekommen in der Zeitung eine eigene Seite, die „Neue Plattform“. Am 18. Januar 1990 erscheint die „Freie Erde“ mit der Schlagzeile: „Der entscheidende Schritt auf einem langen Weg: Unabhängig!“ Die Zeitung ist nicht mehr Organ der SED. Die Journalisten wählen in geheimer Wahl einen Redaktionsrat. Ein Redaktionsstatut wird entworfen, ein Beirat aus Mitgliedern des Runden Tisches bestellt. Die Zeitung verwaltet sich für kurze Zeit selbst. Die Redakteure diskutieren, das Blatt zu kaufen.

Bald sind die Illusionen verflogen

Im Sommer 1990 steht noch die lange Reihe blauer Bände der DDR-Karl-Marx-Gesamtausgabe in Angela Kuboths Redaktionsstube. Daneben Schriften von dem Liberalen Karl Hermann Flach. Die Frau saugt all das, was da plötzlich in die DDR hineinschwappt, auf wie ein Schwamm. Sie ist neugierig, sie ist wissbegierig, sie ist bildungshungrig. Sie ist offen für das Neue. Sie beobachtet, was die, die aus dem Westen kommen, tun, sie beobachtet die Arbeit der Kollegen aus dem Westen – und sie wagt allenfalls ein leises Stöhnen, wenn einer, der vom Leben in Neubrandenburg nichts weiß, sich auch noch über die Stanniolverpackung des DDR-Quarks mokiert. Die Seminare, die die Bundesanstalt für politische Bildung Ost-Journalisten anbietet, sind für sie elementar, sie werden Grundlage ihrer Arbeit. Noch Jahrzehnte später schwärmt sie davon. „Unsere Illusion war, das Beste aus dem Westen und dem Osten zu nehmen und etwas Neues zu machen.“

Angela Kuboth bleibt zunächst Lokalchefin. „Niemand hat mich nach der Wende beschimpft. Ich wurde weiter als Journalistin akzeptiert.“ Sie setzt sich für die aufblühenden Bürgerinitiativen ein, insbesondere wenn es um Kinder geht: „Nie wieder Partei. Du bist nur für die Eltern da.“ Der Chefredakteur sagt ihr: „Frau Kuboth, Sie sind Journalistin, sie sollen etwas beschreiben, nichts organisieren.“

Ein Jahr später wird Angela Kuboth zur Geschäftsführung bestellt, die aus dem Westen kommt. „Wir sind unzufrieden mit Ihnen“, sagte man ihr, unzufrieden mit ihrem Konzept. Die Ressortleiterin weiß, dass es weniger am Konzept liegt: „Ich war als rote Socke nicht mehr tragbar. “ Und sie kann nachvollziehen, dass sie als SED-Funktionärin nicht mehr Ressortleiterin sein kann. Fair hätte sie es gefunden, wenn man es ihr auch so direkt gesagt hätte.

Abrupt ist ihre Karriere beendet

Sie bietet an, künftig als Lokalredakteurin zu arbeiten unter einem Chef, den sie einst selbst in die Mannschaft geholt hat. Sie akzeptiert ihn, er akzeptiert sie. Sie berichtet nun aus dem Umland, aus den Dörfern. „Ich war dankbar. Es hat Spaß gemacht. Es war total spannend. Ich konnte vielen helfen.“ Im Herbst 2003 fährt Angela Kuboth ein Semester lang jeden Dienstag nach Berlin, lernt Volkswirtschaft als Gasthörerin an der Humboldt-Universität, berichtet danach über die lokale Wirtschaft. Sie arbeitet, inzwischen alleinerziehende Mutter, bis zur Erschöpfung, am Ende bis zum Burn-out.

Die persönliche Krise fällt mit einer Krise der Zeitung zusammen, einer Zeitung, die Angela Kuboth noch heute verteidigt und die von der konservativen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einmal als „Notkurier“ charakterisiert worden ist, geführt von einem Geschäftsführer, der in seiner Sparwut „zynisch und weltfremd“ argumentiere. Ende 2007 wird der „Nordkurier“ in viele Einzelfirmen zerlegt. Die Redakteurin verlässt den Verlag zum Jahreswechsel, akzeptiert die Abfindung beim Ausscheiden.

Danach beginnt das dritte Leben der Angela Kuboth. „Ich hatte gar keinen Plan.“ Aber sie ist entschlossen, das, worüber sie bisher berichtet hat, in die Praxis umzusetzen: sie wagt den Schritt in die Selbstständigkeit. „Gott sei Dank war ich wieder blauäugig.“ Sie besucht Kurse, sie nutzt das Angebot „Gründungscoaching“ der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Ihre Trainerin ist eine Unternehmerin, die eine Agentur besitzt.

Kuboth lernt, wie man mit Geschäftspartnern verhandelt, bilanziert, Anzeigen akquiriert, vermarktet. Im Juni 2009 erscheint das erste Heft ihres Familienmagazins. Angela Kuboth ist Herausgeberin, sie schreibt, redigiert, gestaltet das Heft, wirbt Anzeigen ein, besorgt den Vertrieb, verhandelt mit der Druckerei. Ihre Autorinnen arbeiten „aus Spaß an der Freude“.

Selbstzweifel in der Arbeitsagentur

Druck und Vertrieb von „Stine und Malte“ kosten je Ausgabe 3500 Euro. Die Auflage von 5000 Exemplaren wird kostenlos über Kitas, Arztpraxen und Bibliotheken im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte und in der Region Uecker-Randow verteilt, ein kleiner Teil verkauft oder im Abonnement vertrieben. Die Anzeigenerlöse decken die Kosten.

Eine kleine Rente sichert das finanzielle Existenzminimum. Diesen Abstieg verkraftet sie. Aber das ist nur der finanzielle Teil. Als sie zwischenzeitlich einmal auf dem Flur der Arbeitsagentur gesessen und dort nicht nur über andere berichtet hat, dachte sie sich: „Wo bist du gelandet?“ Das sei lehrreich gewesen. Sie versucht das Beste aus der neuen Zeit zu machen. Heute ist sie politisch weniger engagiert als früher. Sie stößt an die Grenzen auch des neuen Systems. Und: „Man braucht viel mehr Kraft für das eigene Leben.“

Angela Kuboth ist jetzt 55 Jahre alt. In drei Jahren, so hofft sie, werden Jüngere die Arbeit an „Stine und Malte“ übernehmen. Sie lebt seit Jahren am Rande ihrer Kräfte, sehr stark und optimistisch. Ein deutsch-deutscher Lebenslauf eben.