Ein bisschen war das mit dem Tante-Inge-Laden wie bei einer russischen Schachtelpuppe, in der nach Öffnung der ersten die nächstkleinere zum Vorschein kommt. Eines fügte sich ins andere, und so stand an einem Tag im Frühjahr 1993 eine Übersetzerin vor der Theke, die mit sechzehn Ingenieuren aus Kiew in Freiburg unterwegs war. "Stellen Sie sich vor, die wollen Bibeln", sagte die Frau zu Schwester Inge, die nicht lange brauchte, bis sie den Wunsch erfüllt hatte. Bei dieser Gelegenheit erzählten ihr die Reisenden von den Straßenkindern und von der Suche nach Werten in einem geschundenen Land, das unter den Folgen von Tschernobyl litt.

Diese Begegnung war die Geburtsstunde eines schier unglaublichen Hilfswerks, das angetrieben von einer taffen Ordensschwester nicht nur Millionen sammelte, sondern auch fünf Kinderhäuser und einen Bauernhof in der Ukraine baute, drei Krankenhäuser mit Medikamenten versorgte und eine Intensivstation mit medizinischen Geräten. Insgesamt 120 Lastwagen wurden von Freiburg aus nach Kiew geschickt. "Marschbefehl vom Himmel", sagt Schwester Inge.

Zwanzig Jahre sind es bald, seit mit ihrer Krise alles angefangen hat. Es ist viel passiert seitdem. Einige der Straßenkinder, die sie in der Kanalisation aufgestöbert hat, haben es auf die Universität geschafft. Die Dinge gehen ihren Gang. "Ich war nur Türöffner für andere, die nachgekommen sind", sagt die Schwester und streicht langsam mit der flachen Hand über die Tischdecke, als wollte sie etwas wegwischen. Für einen Moment wirkt ihre Haut wie gefaltetes Pergament. Schwester Inge lächelt gequält ihrer Vergangenheit hinterher.

Ermutigt macht sie sich auf den Weg nach Berlin


Als sie 70 wurde, hat sie allen Lebewohl gesagt. Der richtige Moment, um aufzuhören. Da meldete sich Uli, ein Student, den sie vom Bibelkreis kannte. Er ist jetzt Sozialarbeiter in Berlin und will dort auch ein paar Inge-Läden betreiben, und außerdem gibt es viele Obdachlose, und so dachte er an die Schwester mit dem eisernen Willen.

In wenigen Tagen wird Inge Kimmerle in der Hauptstadt ihr neues Abenteuer beginnen. Beim Kofferpacken ist ihr ein Schreiben von Heinz Kälberer in die Hände gefallen, früher Oberbürgermeister in Vaihingen an der Enz und heute Osteuropabeauftragter des Landes Baden-Württemberg. In dieser Funktion ist er ihr öfter begegnet. "Eine verrückte Schwester" nennt er sie in seinem Brief. "Es gibt nur wenige Menschen, vor denen ich eine solche Hochachtung habe." Diese Zeilen nimmt sie mit auf ihre Reise.

Schwester Inge bleibt im gehobenen Dienst. Mal sehen, was kommt. "Gott ist mir auf den Fersen", sagt sie mit fester Stimme und faltet ihre vergilbten Zeitungsartikel, die sie neben das Trampolin legt, auf dem sie noch ein bisschen hüpft, bevor der Abend über der Stadt heraufzieht.