Das Stuttgarter Ballett präsentiert bei „Alles Cranko“ fünf Stücke des legendären Kompagniegründers. Nichts wirkt wie im Museum, alles ganz aktuell.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Mit „Strawinsky heute“ richtete das Stuttgarter Ballett zuletzt den Blick nach vorn und demonstrierte mit Choreografien von Sidi Larbi Cherkaoui, Demis Volpi und Marco Goecke das Potenzial, über das die junge Generation verfügt. Die Premiere am vergangenen Donnerstag, „Alles Cranko!“, ließe sich da leicht als chronologisches Kontrastprogramm, als Fingerzeig auf die ruhmreiche Vergangenheit des Stuttgarter Balletts interpretieren, eine Hommage an John Cranko (1927–1973), den Gründer der heutigen Kompanie.

 

Die vier abstrakten Cranko-Choreografien, mit denen der dreistündige Ballettabend im Opernhaus bestückt war, illustrierten dann aber vor allem eins: wie am Eckensee die Vergangenheit in die Zukunft hinüberreicht, wie das Neue auf dem Alten gründet und wie eine junge, herausragende Tänzergeneration choreografische Brillanz, mag sie auch schon vor einem halben Jahrhundert geboren sein, in zeitlose Ästhetik und Ausdruckskraft überführt.

Es ist fast fünfzig Jahre her, dass Cranko das Stück zu Mozarts „Konzert für Flöte und Harfe“ choreografierte, 25 Jahre lang war es nicht im Repertoire; ein Tanztraum in Weiß ist es bis heute. Entstanden war es 1966 als Beschäftigungstherapie für den männlichen Teil der Kompanie, weil fast alle weiblichen Ensemblemitglieder damals bei der Einstudierung von Peter Wrights Neufassung von „Giselle“ zugange waren. Also kreierte Cranko ein „Ballet blanc“ für zehn Herren und zwei Solopaare; es sollte ihnen ebenso viel technische Bravour abverlangen wie „Giselle“ den anderen.

Verlangen, Hingabe, beschwingte Freude

Als pures Demonstrationsobjekt kommt das „Konzert für Flöte und Harfe“, von den Instrumentalisten Andreas Noack und Friederike Wagner entrückend dargebracht, jedoch nicht daher. Blut, Schweiß und Leichtigkeit: die Ersten Solistinnen und Solisten Alicia Amatriain, Elisa Badenes, Friedemann Vogel und Alexander Jones absolvieren Sprünge, Hebefiguren und Pirouetten in Serie und meistern ihre Rollendebüts bravourös. Mit ihnen kondensieren körperliche Schwerstarbeit und technische Höchstleistungen zu tänzerischer Eleganz, Anmut und Heiterkeit. Eine perfekte Harmonie von Bewegung und Musik ist der Grund, weshalb das Stück bei aller starren Formalisierung nicht überholt wirkt.

Als ebenso technisch anspruchsvoll, aber in seiner Botschaft nachhaltiger, weitaus lyrischer, erweist sich der Pas de deux „Aus Holbergs Zeit“ zu Edvard Griegs Suite. Was Cranko 1967 seinen damaligen Tanzstars Birgit Keil und Heinz Clauss auf den Leib schneiderte, erfüllen heute Miriam Kacerova und Constantine Allen auf ihre Weise: ein Genuss, wie sie Verlangen, Hingabe und beschwingte Freude in ihrem reinen, so beredten, ästhetisch vollendeten Zusammenspiel in der Balance halten.

Zu all dieser Leichtigkeit bildet das folgende „Opus I“ einen sinnfälligen Kontrast: Cranko thematisiert in der 1965 entstandenen Choreografie den Kreislauf von Leben und Tod. Lebenskraft, Liebe, Erfüllung, Verlust, Leid und Vergehen: das sind die Schlüsselbegriffe, die er in dieser philosophischen Studie zu Anton von Weberns „Passacaglia“ untersucht. Jason Reilly erwacht, getragen von sechs Kollegenpaaren, aus der Embryohaltung zum Leben, um am Schluss in sie zurückzukehren. Dazwischen bricht sich eine Bilderfülle Bahn, die mal hinreißend-elegisch, mal bohrend-schmerzvoll, von der Dualität des Lebens erzählt. Ausdrucksstark: Alicia Amatriain als zum Schluss so tragisch ins Unerreichbare entschwindende Geliebte.

Aus Freundschaft erwächst große Kunst

Cranko-Tanzkunst in Vollendung führt zum Abschluss das einstündige „Initialen R.B.M.E.“ vor. Gruppenleistung und die Feier der Solisten gehen darin – es schließt sich der Kreis zum Mozart zum Auftakt – Hand in Hand. 1972 schenkte Cranko seinen Solisten Richard Cragun, Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen diese Würdigung und huldigt darin Freundschaft wie Zusammenhalt seiner Kompanie. An die Stelle der Legenden rücken als würdige Nachfolger Daniel Camargo (R), Anna Osadcenko (B), Myriam Simon (M), Arman Zazyan (E) – und Friedemann Vogel, wie einst Heinz Clauss der ungenannte Fünfte im Bunde, der im Paar mit Myriam Simon zwischen Begegnung und Abschied betört.

Das Stück ist eine Zusammenballung von waghalsigen Flugaktionen, erhabenen Sprung-Defilées, heiklen Hebungen und pittoresken Pirouettenkreiseln zur Musik von Johannes Brahms. Doch es sind vor allem die schlichten Gesten in Momenten der Ruhe, die nachhallen: Wach und zuversichtlich ist der Blick, den sich das Solistenquartett beim freundschaftlichen Hand-auf-die-Schulter-Legen zuwirft – mit diesem aus der Vergangenheit gespeisten Korpsgeist ist ihnen die Zukunft gewiss.

Vorstellungen
am 7., 11., 15. und 16. Mai sowie im Juni