Fußball ist ein Mannschaftssport. Das gilt nicht nur für Spieler, sondern auch für Fans, meint StZ-Lokalchef Holger Gayer.

 

Mir geht es wie dem Ronaldo: Es ist Zeit, dass ich endlich abgelöst werde. Ich war der letzte Sportreporter der StZ, der über einen Titelgewinn berichtet hat. 1996 war das, London, EM-Finale im alten Wembleystadion, Deutschland gegen Tschechien. Berger erzielt das 0:1. Der eingewechselte Bierhoff gleicht in der regulären Spielzeit aus, ehe er in der 95. Minute das erste und einzige Golden Goal der hohen Fußballgeschichte erzielt. Ich sitze in Block PB, Reihe 2, Sitz 92 und sehe, wie Kapitän Klinsmann wenige Meter von mir entfernt den Pokal von Queen Elizabeth bekommt. Später, in den Katakomben, zeigt mir Manndecker Kohler seine nasse Unterhose. Er hatte zwar nicht gespielt, aber geschwitzt, vor Aufregung, und danach geduscht. Kein Wunder: Kanzler Kohl war nach Abpfiff auch in der Kabine.

Warum ich all das erzähle? Fußball ist ein Mannschaftssport. Er funktioniert nur in der Gemeinschaft. Das gilt für die Spieler ebenso wie für die Zuschauer. Jeder für sich will einen unvergesslichen Moment erleben. Doch jeder, der dieses Spiel verstanden hat, weiß, dass es unvergessliche Momente nur im Kollektiv gibt. Fußball allein zu Haus ist wie „TNT“ aus dem Kopfhörer. Bon Scott (selig) röhrt, Angus Young rockt – aber bitte flüsternd, dass der Nachbar nicht hört, wie bombig AC/DC sind?

Gefühl muss geteilt werden, wenn es groß werden will

Tut mir leid, das funktioniert nicht. Fußball ist nicht leise, romantisch, nett. Er ist laut, hart, geil. Man darf ungeniert stöhnen, wenn Özil die nächste Chance vergibt, jubeln, wenn Müller trifft, frohlocken, wenn Neuer hält. Gefühl muss geteilt werden, wenn es groß werden will. Dann wird das Ich zum Wir.

Gefühl muss geteilt werden, wenn es groß werden will

Tut mir leid, das funktioniert nicht. Fußball ist nicht leise, romantisch, nett. Er ist laut, hart, geil. Man darf ungeniert stöhnen, wenn Özil die nächste Chance vergibt, jubeln, wenn Müller trifft, frohlocken, wenn Neuer hält. Gefühl muss geteilt werden, wenn es groß werden will. Dann wird das Ich zum Wir.

Wir wissen, was das heißt. Wer erinnert sich nicht an die WM 2006 und den phänomenalen J-und-J-Einzug am Zeppelin-Hotel? Jürgen, Jogi und all die Spieler feierten in Stuttgart nicht den wertlosen dritten Platz, sondern den Halbhöhepunkt eines Märchens. Jeder, der damals auf der Schillerstraße stand, ahnt, was ich meine. Das war Public Viewing mit Gegenverkehr. Und jeder hat seinen individuellen Moment gespeichert im kollektiven Gedächtnis.

Es muss übrigens nicht die ganz große Masse sein, die gemeinsam guckt. Beim 7:1 gegen Brasilien war ich mit anderen Freunden bei Brigitte und Thomas eingeladen. Weil mein Weizen leer war, holte Thomas Nachschub – und verpasste deswegen die Tore 3 und 4. Das ist mein Moment dieses Spiels, was natürlich ein schlechtes Gewissen nach sich zieht. Also bekenne ich mich schuldig und hoffe, dass die Strafe am Sonntag folgt. Dann will ich endlich abgelöst werden. Von Marko Schumacher, der als erster StZ-Reporter seit dem EM-Sieg 1996 über einen Titel der Fußball-Nationalelf berichtet. Er hat den Titel verdient.

Kontra: Bereit für das „Finale Daheim“

Fußball im Biergarten schauen? Kann man machen, sollte man aber besser nicht, meint StZ-Lokalredakteur Erik Raidt.

Doch, Public Viewing kann großartig sein. An der Copacabana beispielsweise, wo der brasilianische Winter den deutschen Sommer locker abhängt. Oder damals, als ganz Deutschland bei der eigenen WM rauschende Ballnächte feierte und die holländischen Fans auf dem Stuttgarter Schlossplatz Frau Antje auf die Bühne schickten, die mit dem damaligen Oberbürgermeister Wolfgang Schuster Samba tanzte. Als die Schweizer Fans mit Kuhglocken dröhnend durch die Stadt marschierten und Klinsmanns Jungs zum Spiel um Platz drei Stuttgart in einen Hexenkessel verwandelten.

Die Aufzählung zeigt auch: Public Viewing, die öffentliche Rudelbildung beim Fußballschauen, ist so was von 2006. Bei dieser Weltmeisterschaft ist der Dampf raus aus der Nummer, und die Gründe dafür sind schnell aufgezählt. Viele Spiele werden spät angepfiffen, während eines vierwöchigen Turniers macht es keinen Spaß, ewig in der Kneipe zu hocken, sich womöglich noch Verlängerung und Elfmeterschießen anschauen zu müssen und dann um ein Uhr nachts nach Hause zu wanken, in der sicheren Gewissheit, dass in sechs Stunden wieder der Wecker klingelt.

Einladen oder einladen lassen

Und lohnt sich der Ausflug in den Biergarten ausgerechnet während der WM-Zeit? Die Erfahrung lehrt, dass der Blick auf die Leinwand garantiert immer in jenem Drittel versperrt ist, in dem gerade ein Tor fällt. Weil es angesichts des Massenandrangs husch, husch gehen muss, leidet die Qualität: In manchen Biergärten macht Kollege Fritteuse einen mäßigen Job, und das Serviceteam ist dünn besetzt.

Zu Hause kommt stattdessen auf den Tisch, was wirklich schmeckt – das gilt auch für das Bier, das man selbst auswählt und bei dem man nicht dem Diktat einer bestimmten Brauerei ausgesetzt ist, die mit der jeweiligen Kneipe einen Vertrag abgeschlossen hat. Stimmt, das hört sich vielleicht kleinkrämerisch und sauertöpfisch an, aber das „Finale daheim“ muss keine Spaßbremsenveranstaltung werden, bei der man allein auf dem Sofa sitzt. Am Sonntag gilt: einladen oder einladen lassen.

Der Bundestrainer hat recht – wer durch das Turnier bis ins Endspiel kommen will, muss sich seine Kräfte einteilen. Und da bietet das Home Viewing unschlagbare Vorteile: Die Wege sind kurz (Couch-Kühlschrank-Bett), die vorhandenen Alternativen offenbaren ungeahnte taktische Möglichkeiten, auf den Spielverlauf zu reagieren: um- oder ausschalten, in der Halbzeit einschlafen und so weiter. Wenn man dann im Bett liegt und das Fenster offen steht, hört man in diesen Sommergewittertagen oft die wüsten Flüche der Kneipen-Fußballschauer, die auf der Straße mal wieder vom Regen erwischt wurden.