Seit zwei Jahren lebt der deutsche Autor Achim Wagner in Ankara. Er beschreibt für uns die Tage und die Kultur des Protestes in der türkischen Hauptstadt und zeigt seine Eindrücke in Bildern.

Ankara - Bei uns in Ankara führen die Straßen nicht wie in den anderen Städten zum Meer, sondern zu Regierungsgebäuden, Verwaltungseinrichtungen und Botschaften“, beantwortete auf einer internationalen Diskussionsseite zu den aktuellen Ereignissen in der Türkei ein Facebook-Nutzer knapp die Frage, warum die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden in Ankara besonders hart seien.

 

Seit dem 31. Mai wird in der türkischen Hauptstadt Ankara demonstriert, mittlerweile meistens in der Nacht; getragen werden diese nächtlichen Demonstrationen von der jungen Generation. In Zentrumsnähe und im Zentrum kommt es jetzt regelmäßig zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei. Ein Ausgangspunkt dieser täglichen Demonstrationen ist der Schwanenpark im Ausgehviertel Tunalı, etwa 1,5 Kilometer oberhalb des Stadtzentrums Kızılay gelegen. Normalerweise beherbergt dieser Park mit seiner Wasserfläche vier Schwanenpaare, neun Wildgänse und drei Wildenten, ist er ein innerstädtisches Idyll. Nach Beginn der Demonstrationen wurden die Vögel in einen entfernter gelegenen Park gebracht.

Der Park hängt voller Dichterzitate

Auf der Tunalı Hilmi Caddesi, der zentralen Straße des Viertels, die zum Park führt, verkaufen inzwischen Straßenhändler Atemschutzmasken, Schwimmbrillen, Trillerpfeifen, Vuvuzelas, türkische Fahnen mit und ohne Konterfei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, T-Shirts mit Widerstandsparolen. Der Park selbst wurde von Protestierenden besetzt, zwischendurch von der Polizei geräumt, wieder besetzt, wieder geräumt und dann wieder besetzt.

Verschiedene Protestinitiativen haben im Park Stände eingerichtet, mit Informationsmaterial zu ihren jeweiligen Anliegen. Eine Protestplattform wurde gegründet. Für einige Tage gab es eine von Studenten betreute sogenannte Volksbibliothek, mit auf Planen ausgelegten Büchern. Der Park hing voller handgeschriebener Plakate mit politischen Slogans, ironischen Kommentaren und immer wieder auch mit Gedichten respektive Gedichtzeilen bekannter türkischer Dichter.

Zwei Gesichter des Protests

Das Geschehen im und um den Schwanenpark zeigt zwei Gesichter des Protests, ein weitgehend kemalistisch geprägtes, das sich in den Straßendemonstrationen mit seinen vielen türkischen Fahnen zeigt und lautstark artikuliert, und ein alternatives, ruhiges, wie es im Park selbst zu sehen ist. Richten sich die Demonstrationen am Park unmittelbar gegen den Ministerpräsidenten Erdogan und die AKP-Regierung und finden darin ihren Zusammenhalt, versuchen die Protestierenden im Park selbst ihre unterschiedlichen Anliegen in Gesprächen mit Parkbesuchern transparent zu machen und auch gemeinsame Aktionen zu koordinieren. („Kemalistisch“ nennt sich jene Opposition, die auf eine strikte Trennung von Staat und Religion pocht; d. Red.)

So wurde beispielsweise am vergangenen Samstagabend als improvisiertes Freiluftkino ein Dokumentarfilm gezeigt, der sich in kritischer Analyse mit der aktuellen Stadtplanung in Istanbul und Ankara auseinandersetzt, während gleichzeitig, in vielleicht 30 Meter Entfernung, auf der Tunalı Hilmi Caddesi Parolen skandiert, gesungen und in besagte Trillerpfeifen und Vuvuzelas geblasen wurde.

Aus diesen anhaltenden Demonstrationen am Schwanenpark lösen sich sukzessive größere und kleinere Gruppen, um sich in Richtung Innenstadt zu bewegen, wo sie wiederum auf weitere Demonstrationsgruppen stoßen. Gemeinsam mit diesen sah man sich dann in Konfrontation mit den Sicherheitskräften der Polizei, deren Wasserwerfern und Tränengasgewehren.