Noch nie zuvor sind so viele Menschen im ganzen Land am ersten vollen Arbeitstag eines US-Präsidenten auf die Straße gegangen wie bei Donald Trump. Auf Plakaten stellen sie den neuen Präsidenten als einen Frauenfeind und Putin-Freund dar. Eine Reportage aus der Hauptstadt Washington.

Washington - Die Frau muss es wissen, sie ist mit 82 Jahren alt genug. Am Samstag steht Gloria, Ikone der US-Frauenbewegung, auf einer Bühne im Zentrum von Washington, hat einen roten Schal um den Hals geschlungen, blickt über eine Menge aus mehreren hunderttausend Menschen und sagt, dass sie so viele wehrhafte Demokraten noch nie ihrem langen Leben auf einem Fleck versammelt gesehen habe. Der Tag nach der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Donald Trump ist der Tag der Frauen, die gegen Trump demonstrieren - laut, bunt, phantasievoll, wütend.

 

In der Menge vor dem Kapitol steht Laura Johnson aus Bethesda im US-Bundesstaat Maryland. Die 50 Jahre alte Frau trägt eine rosa Strickmütze auf dem Kopf, das Markenzeichen des „Womens’ March on Washington“, wie die Protestkundgebung an den Marsch der Afro-Amerikaner auf die US-Hauptstadt vor mehr als 50 Jahren genannt wird. Laura Johnson sagt: „Gut, der Mann ist jetzt Präsident. Aber soll ich ihn deswegen respektieren? Nein.“ Dann zählt sie auf, wie sich Trump im Wahlkampf gegenüber Frauen benommen, mit welchen Schimpfworten er sie belegt hat, welche skandalöse Bemerkung er wann über Frauen hat fallen lassen. Laura Johnson ist sichtlich verärgert. Ihr Freund Charlie Kaylor kommt hinzu, blickt in die Menge und sagt: „Das ist das Amerika, in dem ich leben will, nicht aber in dem Amerika eines Donald Trump.“ Der 49 Jahre alte Geographie-Professor Kaylor findet, dass es nun wichtig ist, Gesicht zu zeigen und auf die Straße zu gehen. Trump habe schließlich in seiner ersten Rede so etwas wie eine Kriegserklärung gegen die Liberalen im Land abgegeben.

Trump hat eine aggressive Antrittsrede gehalten

Neben, vor und hinter Johnson und Kaylor drängeln sich an diesem Tag die Trump-Gegnerinnen und Trump-Gegner. Die Frauen sind eindeutig in der Mehrheit. Sie tragen Kostüme, auf denen „Nasty Woman“ (Scheußliche Frau) steht. So hat Trump während des Wahlkampfs einmal seine Konkurrentin Hillary Clinton bezeichnet. Auf Plakaten stellen sie den neuen Präsidenten der USA als einen Frauenfeind und Putin-Freund dar. Trump hat in einem Video, das wenige Wochen vor der Wahl am 8. November an die Öffentlichkeit kam, geprahlt, er könne Frauen jederzeit ans Geschlecht greifen, weil er ein Star sei. Und seine Bewunderung für den russischen Präsidenten hat Trump ohnehin wiederholt zum Ausdruck gebracht.

An einer Ecke der Parademeile in der Mitte Washingtons, die vom Kapitol zum Denkmal für Präsident Abraham Lincoln führt, singt ein Häuflein Demonstranten „This land is my land“, das Lied aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung. Es weht ein Wind des Widerstands durch die US-Hauptstadt. Noch nie zuvor sind so viele Menschen im ganzen Land am ersten vollen Arbeitstag eines Präsidenten auf die Straße gegangen. In Chicago, in Los Angeles, in New York protestieren sie zu Zehntausenden und wünschen sich den Mann weg, der einen Tag zuvor erst Präsident geworden ist. Trump hat dabei eine aggressive Antrittsrede gehalten und seinen Gegnern Angst eingejagt. Das liberale Magazin „New Yorker“ nennt ihn „unseren impulsiven, autoritären, isolationistischen Präsidenten“.

Niemand zählt die Frauen, Männer und Kinder an diesem Tag

Ungefähr auf halbem Weg zwischen dem Kapitol und dem Obelisken, der dem ersten US-Präsidenten George Washington gewidmet ist, steht am Samstagmittag eine schmale Frau im roten Anorak. Es ist Susan Rice. Die Afro-Amerikanerin war bis Freitagmittag Nationale Sicherheitsberaterin von Präsident Barack Obama. Rice sieht sich den Protesttrubel an, und man hätte nur zu gerne gewusst, was ihr gerade durch den Kopf geht. Doch Rice will partout keinen Kommentar abgeben. „Ich bin nur noch Privatmensch“, sagt sie: „Meine Anwesenheit sagt doch alles.“

Niemand kann genau sagen, wie viele Menschen an diesem Tag gegen Trump demonstrieren. 250.000 waren für den Marsch in Washington angemeldet. Die Veranstalter sagen am Nachmittag, dass es 500.000 seien. Einmal macht das Gerücht die Runde, es seien 1,2 Millionen Teilnehmer. Dann werden alle ganz wuschig, und es brandet Jubel in der Menge auf. Doch es ist müßig zu spekulieren. Niemand zählt die Frauen, Männer und Kinder an diesem Tag. Es sieht aus, als könnten es mehr Menschen sein als am Tag zuvor, an dem Trump den Amtseid geschworen hat. Vielleicht aber auch nicht.

Ein bizarrer Streit um die Menschenmassen

Der einzige Mensch, der sich am Samstag tatsächlich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzt, wie viele Menschen ihm zugejubelt haben könnten, ist ausgerechnet Donald Trump selbst. Das entwickelt sich im Laufe des Tages zu einem bizarren Streit.

Auf dem Weg zu einem Gottesdienst in der Kathedrale in Washington wird Trump am Vormittag einige Demonstranten durch das Fenster seiner Dienstlimousine gesehen haben. Vor allem aber wird er gelesen haben, dass es in den Medien heißt, seine Amtseinführungsfeier habe deutlich weniger Zuschauer angezogen als die Zeremonie, bei der Barack Obama im Jahr 2009 erstmals den Eid abgelegt hat. Es werden Luftbilder veröffentlicht. Sie zeigen am 20. Januar 2009 eine überfüllte Museumsmeile zwischen Obelisk und Kapitol. Das Bild vom 20. Januar 2017 dagegen zeigt deutlich Lücken in der Menge. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil niemand die Besucher zählt. Die „New York Times“ zitiert einen britischen Professor aus Manchester, einen Experte in der Kunst, Menschenmassen zu quantifizieren. Keith Stil sagt der Zeitung, Trumps Zuschauerzahl sei etwa ein Drittel so groß gewesen wie jene Obamas vor acht Jahren. Damals hieß es, 1,8 Millionen Menschen hätten die Amtseinführungsfeier des ersten afro-amerikanischen Präsidenten in der Geschichte der USA besucht.

Trumps Ärger legt sich nicht

Doch solche Vergleiche scheinen Trump gar nicht zu gefallen. Er ist sichtlich erbost, als er am Nachmittag zum ersten Mal das Hauptquartier des Auslandsgeheimdienstes CIA besucht, mit dem er in den vergangenen Wochen wegen des Streits um angebliche russische Einflussnahme auf die Wahlen in den USA kein gutes Verhältnis hatte. Trump mag die CIA jetzt wieder, sagt das auch, hält sich aber nicht lange an dem Thema fest, sondern beginnt, Medienschelte zu betreiben. Die Meldungen, er habe weniger Zuschauer als Obama gehabt, seien allesamt falsch, sagt der US-Präsident. Von seinem Platz aus habe es ausgesehen, als seien „eine Million, anderthalb Millionen Menschen“ gekommen: „Die Medienleute gehören zu den verlogensten menschlichen Wesen auf der Erde, nicht wahr?“

Trumps Ärger legt sich nicht. Am späten Nachmittag schickt er seinen Sprecher Sean Spicer los, um den Hauptstadtjournalisten Bescheid zu geben. In einem für US-Verhältnisse völlig ungewöhnlichen Auftritt beklagt sich Spicer über die Veröffentlichung angeblich falscher Zahlen. Das Gegenteil sei der Fall: „Noch niemals“ seien so viele Menschen zu einer Inauguration gekommen wie am Freitag. Zwar schiebt Spicer sicherheitshalber noch schnell nach, dass niemand die Menschen gezählt habe. Doch das Ablenkungsmanöver scheint zu funktionieren. In den TV-Sendungen rückt die für Trump peinliche Demo-Berichterstattung ein wenig in den Hintergrund.

Wenn nicht alles täuscht, wird das die Protestbewegung gegen Trump trotzdem nicht aufhalten können. Einige Tausend Demonstranten stehen am späten Samstagnachmittag in der Nähe des Weißen Hauses und skandieren: „Welcome to your first day, we will not go away. We want a real leader, not a creepy tweeter (etwa: Willkommen zu Ihrem ersten Arbeitstag, wir werden nicht verschwinden. Wir wollen eine richtige Führungspersönlickeit, nicht einen gruseligen Twitterer). Viele träumen in diesem Augenblick davon, dass der Druck der Straße Trump aus dem Weißen Haus treiben wird. Das mögen Blütenträume sein, aber hat nicht die Sängerin Madonna ein paar Stunden zuvor auf der Bühne in der Nähe des Kapitols gerufen: „Die Revolution beginnt jetzt.“