Es war an einem Mittwoch, ebenfalls im August, als der Nordflügel des denkmalgeschützten Bahnhofs allerdings noch heil war. Tausende von Menschen verfolgten, wieder hochkonzentriert, ein Podiumsgespräch, bei dem Fachleute vor Ort die Schönheiten des Bonatz-Baus erklärten - so penibel, so verliebt in Details wie Bauproportionen und Baumaterialien, als wollten sie aus jedem ihrer Zuhörer einen versierten Architekturhistoriker machen.

Verblüffende Ruhe unter Zehntausenden


Und es war am vergangenen Freitag, als bei der Kundgebung im Schlossgarten ein Jurist auftrat. Zugegeben, vor und nach seinem Auftritt wurden von der Bühne herab wieder Sprüche geklopft und Parolen verkündet, wer wollte das den erhitzten Rednern am Tag danach verübeln? Trotzdem kehrte auch hier, zwischen empörten Mappus-weg-Sprechchören, eine verblüffende Ruhe unter den Zehntausenden von Menschen ein, als eben dieser Jurist das Wesen des zivilen Ungehorsams erörterte. Minutenlang zitierte er aus einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts - und dass das Publikum ihm zuhörte, erkannte man daran, dass die zentralen Sätze des obersten Richterspruchs mit heftigem Beifall quittiert wurden.

Die Protestbewegung gegen Stuttgart21 ist auch eine Bildungsbewegung. Fast überall, wo derzeit gegen die Tieferlegung des Bahnhofs aufbegehrt wird, kommt es zu einer Volkshochschule unter freiem Himmel, wobei es nicht nur am freien Eintritt liegt, dass der Zulauf zu den Infoveranstaltungen so stark ist. Der Wissensdurst der S-21-Gegner ist enorm, so enorm wie eben auch der Kulturdurst, der ebenfalls umsonst und draußen gestillt werden kann: Als im Sommer ein ad hoc zusammengestelltes Orchester Antonin Dvoraks Sinfonie "Aus der neuen Welt" im Schlossgarten spielte und dazu die Springbrunnen plätscherten, fühlten sich die Zuhörer - abermals Tausende - wie in New York. Auch dort gibt es Klassik im Park, im Central Park, auch dort trifft Hochkultur auf Breitenkultur, wenngleich die Konzerte dann nicht im Zeichen des Widerstands stehen.

Wiederbelebte Happening- und Festivalkultur


Der musikalische Widerstand ist ein Stuttgarter Privileg. Und zu diesen Privilegien gehört auch noch etwas anderes: den renitenten Bürgern der Stadt ist es offensichtlich gegeben, mit ihren Protesten die längst totgeglaubte Happening- und Festivalkultur wiederzubeleben. Die Fahnen schwingenden und in Trillerpfeifen blasenden Leute haben Spaß an ihren Aktionen, sie berauschen sich an ihrer Vitalität und machen aus jeder Kundgebung ein kleines Woodstock mit Love & Peace & Happiness. Und niemand ist bei ihren Events ausgeschlossen, alle sind bei den Festen willkommen, auch jene gebrechlichen Menschen, die nie und nimmer an den Aktionen der S-21-Befürworter teilnehmen könnten.

Die Freunde des tiefergelegten Bahnhofs joggen durch den Park. Zum Joggen muss man fit und leistungsfähig sein. Ihre Aktion entspricht also dem Bild, das sie sich auch von Stuttgart 21 machen. Das Gegenbild dazu entwerfen die S-21-Gegner. Ihre Protestaktionen wirken anders: offener, gescheiter, menschenfreundlicher.