Der mittlerweile tief gefallene Paralympics-Star Oscar Pistorius hat im Jahr 2008 Schlagzeilen gemacht: Damals klagte der unterschenkelamputierte Läufer das Startrecht beim Wettbewerb nichtbehinderter Sportler ein.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Es ist Sonntag in Daegu, Südkorea, als die Welt ein Wunder bestaunt – einen Sprinter, wie es ihn bei Weltmeisterschaften noch nie gegeben hatte. Ein Raunen geht durch die Ränge, als Oscar Pistorius auf der Videoleinwand erscheint. Schnell geht das Gemurmel im ausverkauften Stadion in Saegu über in tosenden Applaus. Es ist der 28. August 2011, ein Tag, an dem Sportgeschichte geschrieben wird. Beim Vorlauf über 400 Meter bei der Leichtathletik-WM ist der beidseitig unterschenkelamputierte Oscar Pistorius am Ziel einer langen Reise: Der damals 24 Jahre alte Südafrikaner startet im Wettbewerb der Nichtbehinderten.

 

Es war der Höhepunkt eines Medienhypes, wie ihn die Welt des Sports lange nicht gesehen hatte. Der mittlerweile tief gefallene „Blade Runner“, der derzeit in Südafrika vor Gericht steht, weil er seine Freundin erschossen hat, war durch seinen Kampf um Gleichberechtigung zum globalen Superstar geworden. Oscar Pistorius riss Grenzen ein und zertrümmerte Stereotype in den Köpfen wie etwa die Vorstellung, dass ein Mensch ohne Beine kein Weltklasseläufer sein kann.

Diskussion um die Chancengleichheit

Im Jahr 2007 hatte Pistorius die Diskussion um die Chancengleichheit entfacht. Der Paralympics-Sieger wollte gegen Nichtbehinderte antreten. Aber betrieb Pistorius auch die gleiche Sportart? Erstmals stand die Frage im Raum, ob ein Behinderter durch seine technisch hervorragend ausgerüsteten Prothesen nicht einen Vorteil gegenüber nichtbehinderten Läufern haben könnte. Ein Gutachten des angesehenen Biomechanikers Gert-Peter Brüggemann von der Sporthochschule Köln kam Ende 2007 zu dem Ergebnis, dass Pistorius tatsächlich einen Vorsprung habe. „Der künstliche Fuß kann beim Sprint mit hoher Geschwindigkeit mehr Energie speichern und zugleich mehr Energie generieren als das menschliche Sprunggelenk“, befand Brüggemann: „Pistorius braucht bei jedem Schritt in der horizontalen und in der vertikalen Komponente weniger Kraft als andere Athleten. Weniger Kraft bei konstanter Geschwindigkeit ist ein Vorteil.“

Der Lauf in die Geschichtsbücher

Pistorius zog vor den Internationalen Sportgerichtshof (CAS), um sein Startrecht für die Olympischen Spiele 2008 einzuklagen. Dort bekam der Läufer Recht, weil das Gutachten neben den Vorteilen die Nachteile in anderen Aspekten des Laufes (unter anderem beim Kurvenverhalten und beim Start) nicht ausreichend berücksichtigt habe, urteilte der CAS. Die Richter betonten aber, dass es sich um eine Einzelfallentscheidung handele und daraus kein automatisches Startrecht für ähnlich gelagerte Fälle abzuleiten sei. Sportlich scheiterte Pistorius an der Norm für Olympia; auch für die WM 2009 in Berlin konnte er sich nicht qualifizieren.

Am 19. Juli 2011 unterbot Pistorius dann mit einer Zeit von 45,07 Sekunden auf 400 Metern die Qualifikationsnorm für die Weltmeisterschaft in Daegu. Es war sein Lauf in die Geschichtsbücher des Sports. In Südkorea erreichte er dann immerhin das Halbfinale. 2012 qualifizierte er sich auch für die Olympischen Spiele. Debatten gab es keine mehr, obwohl viele weiter Zweifel an der Vergleichbarkeit seiner Leistung mit der eines nichtbehinderten Sportlers haben. Aber die Schlacht war geschlagen – vielleicht auch, weil alle vom Ergebnis profitierten: die Leichtathletik bekam Schlagzeilen, von denen neben Pistorius auch alle anderen Sportler etwas hatten – und der Südafrikaner war zwar gut, aber wiederum nicht so schnell, dass er um die vorderen Plätze hätte laufen können.